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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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anzutreten, und den Tag stattdessen damit verbracht, im Internet zu recherchieren. Dort hatte sie Informationen über vier Bales-Kliniken zutage gefördert, die alle in armen, abgelegenen Townships in Südafrika zu stehen schienen. Daneben besaß Doctor Peter Bales, falls man der Website trauen durfte, eine weitaus schickere Privatpraxis in Johannesburg. Das Bild daneben zeigte einen deutlich jüngeren Piero Balestro. Laut dem beigefügten Lebenslauf hatte er 1950 an der University of Michigan Medical School abgeschlossen. Eine Frau oder Kinder wurden nicht genannt. Seine Familie blieb insgesamt unerwähnt, wie auch die Tatsache, dass er Italiener war. Seinem Foto und dem Lebenslauf nach wirkte Peter Bales wie ein prototypischer Amerikaner.
    Die Hoffnung, etwas über seine Ehe mit der amerikanischen Krankenschwester herauszufinden, die er angeblich in Florenz geheiratet hatte, und mit etwas Glück sogar auf den Namen der Frau – oder besser noch eine Adresse – zu stoßen, hatte sie am frühen Montagmorgen schließlich in die Stadtverwaltung getrieben.
    Bis elf Uhr hatte Eleanor die Eheverzeichnisse durchpflügt, dazu die Unterlagen der Roten Kreuzes sowie sämtlicher Krankenhäuser, ohne dass sie dabei etwas gefunden hätte. Gerade als sie aufgeben wollte und sich schon halb damit abgefunden hatte, dass sich dadurch nichts änderte, dass sie einfach ins Auto steigen und nach Siena fahren würde, um das alte Scheusal zur Rede zu stellen, waren ihr das Pergola-Theater und Radio Julia in den Sinn gekommen – und das, was Pallioti ihr erzählt hatte. Dann musste sie daran denken, wie Piero Balestro reagiert hatte, als Pallioti den Vorfall angesprochen hatte. Nur in diesem Moment war Balestros Fassade rissig geworden, nur in diesem Moment war Pallioti zu ihm durchgedrungen. Zugegeben, es war nicht weiter auffallend gewesen. Als hätte eine Mücke einen Stier gestochen. Trotzdem hatte sie es gemerkt. Und wenn sie schon ein Versprechen brechen würde, dann konnte sie zumindest ein anderes dafür halten.
    Eleanor füllte ein Auskunftsersuchen aus und forderte sämtliche Unterlagen aus dem Zeitraum rund um den Valentinstag 1944 sowie alles rund um die Verhaftungen im Juni 1944 an. In der Bibliothek war nicht viel los. Sie stand auf, vertrat sich die Beine, ging nach draußen und sah auf ihrem Handy nach. Es waren keine Nachrichten eingegangen. Seit dem katastrophalen Wochenende in Positano hatte ihr Mann aufgehört, sie anzurufen. Als sie zwanzig Minuten später an ihren Platz zurückkehrte, standen dort zwei Kartons mit Dokumenten bereit.
    Das Material bestand größtenteils aus Kopien, weil die Originale entweder woanders gelagert wurden oder zu empfindlich waren, als dass man sie herausgeben wollte. Zum Teil hatte sie die Papiere schon einmal gesehen – vor allem die Flugschriften und Schilderungen von Augenzeugen sowie die Berichte über Aktionen der GAP. Sie sah auf die Uhr. Sie würde mindestens anderthalb Stunden brauchen, um zu Balestros Anwesen zu gelangen, und sie wollte noch etwas essen, bevor sie losfuhr. Sie war schon hungrig und hatte beinahe das Interesse verloren, als sie auf die Blätter ganz unten im zweiten Karton stieß.
    Eleanor erkannte die Papiere auf den ersten Blick. Einige davon hatte sie bereits früher gesehen. Es waren Unterlagen aus der Villa Triste. Sie hob sie heraus und breitete sie auf dem Schreibtisch aus. Diese so ordentlichen und pingelig geführten Verzeichnisse des Todes lösten bei ihr immer eine Gänsehaut aus. Alles war so korrekt notiert worden. Diesmal hatte sie nur Fotokopien vor sich, trotzdem fuhr sie mit den Fingern die Zeilen mit den Einträgen entlang. Diese Übung hatte sie sich selbst auferlegt – sich jedes Mal ins Gedächtnis zu rufen, dass sich hinter diesen akkuraten Buchstaben nicht nur Namen, sondern Menschenleben, Hoffnungen, Träume und Wünsche verbargen, die man zerschlagen, zerbrochen und ausgelöscht hatte.
    Sie schloss die Augen und zwang sich, an die winzigen Bruchstücke so vieler Leben zu denken, die damals verloren gegangen waren. Die Erinnerung an eine Geburtstagsfeier. An die Freude über Sonnenschein oder Regen. Den Klang einer Stimme. Den Geschmack einer Leibspeise. Ein Glas Wein. Brot und Salz. Erinnerungen, die niemandem etwas bedeuteten außer jenen, die sie verloren hatten. Dann senkte sie den Blick auf das Blatt und blinzelte.
    Eleanor Sachs merkte, wie ihr Puls beschleunigte. Sie sah noch einmal hin, wieder weg und wieder hin. Sie traute

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