Die Toten der Villa Triste
ihren Augen nicht. Das konnte unmöglich stimmen. Aber dort stand es, genau unter ihren Fingern. Sie schob den Zeigefinger langsam über die Zeilen, unter den aufrechten, gestanzt wirkenden Buchstaben entlang, wie ein Kind, das gerade lesen lernt. Sie wollte ganz sichergehen, dass sie sich nicht verlesen hatte. Aber das hatte sie nicht. Sie überprüfte das Datum oben auf der Seite. 15. Juni 1944. Sie las die Zeilen noch einmal. Aber die Einträge änderten sich nicht.
Eleanor sah sich um. Es hatten von Anfang an nicht viele Besucher im Lesesaal gesessen, und die meisten von ihnen waren inzwischen gegangen, entweder zum Mittagessen oder nach Hause. Das Mädchen an der Ausleihtheke las. Leckte gelegentlich den Zeigefinger an und blätterte dann um. Ohne den Blick abzuwenden, fasste Eleanor in ihre Schultertasche.
Das Ding war zu groß, es war wie ein schwarzes Loch. Sie sollte sich eine kleinere Tasche zulegen, in der sie alles fand. Ihr Handy beispielsweise. Sie hatte es schon in der Hand, als ihr aufging, dass das eine dämliche Idee war. Das Handy würde piepen, wenn sie es einschaltete, und noch einmal, wenn sie damit fotografierte. In diesem stillen Lesesaal musste das auffallen – und dann würde man sie hinauswerfen. Und selbst wenn sie es schaffte, ein Bild der Seite aufzunehmen, wäre der Bildschirm so winzig, dass es ihr kaum etwas nützen würde. Irgendwie spürte sie, dass sie nicht die Zeit hatte, das Handy erst an einen Computer anzuschließen. Pallioti musste sehen, was sie vor sich liegen hatte, und er musste es sofort sehen.
Eleanor sah sich noch einmal um. Ihr Mund war wie ausgetrocknet. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Dann streckte sie schnell die Hand aus, zog die Seite von der Tischplatte auf ihren Schoß und von dort aus weiter in das offene Maul ihrer Tasche.
Pallioti hatte gerade sein Sandwich aufgegessen und war auf dem Rückweg ins Büro, als sein Handy läutete. Ohne langsamer zu werden, zog er es aus der Tasche. Als er sah, dass ihn Eleanor Sachs anrief und nicht der Bürgermeister, der ihn ein weiteres Mal zusammenstauchen wollte, blieb er stehen und klappte es auf.
»Guten Morgen, Dottoressa«, sagte er. »Oder sollte ich schon einen schönen Nachmittag wünschen?«
Die Durchsuchung des Papierkorbs hatte äußerst zufriedenstellende Ergebnisse erbracht. Die Sonne schien immer noch. Sein Sandwich war besser gewesen als sonst. Alles in allem fühlte er sich bemerkenswert aufgeräumt.
»Wo sind Sie?« Eleanor Sachs klang gestresst. Schlimmer als gestresst. Sie klang panisch.
»Wo ich bin? Auf der Piazza …« Pallioti sah auf sein Handy und stutzte. Er hörte Verkehrslärm aus dem Lautsprecher, dann eine Hupe. »Wo sind Sie?«, fragte er. »Was ist denn los? Fahren Sie gerade?«
»Ja. Nein. Ich bin am Lungarno. Ich halte gerade am Straßenrand. Beim Excelsior. Können Sie kommen?«
»Eleanor?« Hatte man sie verhaftet? Zum Anhalten gezwungen, und jetzt wollte sie, dass er ihr aus der Patsche half? »Was ist denn …?«
»Ich bin auf etwas gestoßen«, fiel sie ihm ins Wort. »Sie müssen das sehen. Es ergibt keinen Sinn. Aber es ist wichtig. Es kommt aus der Villa Triste.«
Fünf Minuten später hob Eleanor Sachs den Kopf und sah Pallioti auf dem Gehsteig näher kommen. Er schob sich an einer Gruppe von Schaufensterbummlern vorbei, hob die Hand und trat dann kurz auf die Fahrbahn, um einer Frau mit Kinderwagen auszuweichen. Als er die Beifahrertür aufzog, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Sie hatte mit der Tasche auf dem Schoß dagesessen, eine Hand darin versenkt, um das Papier festzuhalten, als könnte es sich in Luft auflösen, bevor sie Gelegenheit hatte, es ihm zu zeigen.
»Hier.« Ohne jede weitere Erklärung reichte sie ihm die zerfledderte Kopie, froh, sie los zu sein, als wäre sie explosiv oder irgendwie belastend.
Sie sah, wie er das Gesicht in besorgte Falten legte.
»Was …«
»Es kommt aus der Villa Triste«, sagte sie. »Dienstag, 15. Juni 1944.«
Er sah auf. »Woher haben Sie das?«
»Ich habe es gestohlen, vor ungefähr einer Stunde, aus dem städtischen Archiv.«
Pallioti sah sie streng an.
»Es ist nur eine Kopie!«, sagte sie. »Herrgott noch mal, das bedeutet nicht den Weltuntergang. Ziemlich weit unten – lesen Sie endlich!«
Pallioti holte seine Brille heraus. Er hob das Blatt hoch, um die Einträge entziffern zu können. Unter dem Datum stand eine Namensliste.
Aurelio Enrico Cammaccio, geb. Florenz 1885, 59 J., Professor. 11 Uhr
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