Die Toten der Villa Triste
hätte es keine Zeugen mehr gegeben. Falls sie überlebte und jemandem von der Razzia erzählte, würde ihr Wort ihn für alle Zeiten befreien. Danach würde niemand mehr daran zweifeln, dass Massimo und Beppe und Il Corvo tot waren. Denn Issa hatte es gesagt. Und niemand sucht nach Toten.
Pallioti blinzelte. Die Straße wand sich vor ihm, spulte ihr schmales graues Band ab.
Aber jemand hatte genau das getan. Genau das war passiert.
Er drückte das Gaspedal durch. Irgendwann ist jeder mit seinem Glück am Ende, Dottore.
Der Himmel strahlte in klarem Mittagsblau. Auch diesmal stand das elektrische Tor offen, und das Gatter strahlte mattsilbern über der gestampften weißen Erde der Zufahrt. Dafür konnte es tausend Gründe geben, einer harmloser als der andere. Oder auch nicht. Pallioti blickte in die Überwachungskamera. Das kleine rote Auge blinkte regelmäßig.
Sie bogen ein und fuhren die Zufahrt entlang. Seit ihrem ersten Besuch waren keine achtundvierzig Stunden vergangen, und schon kam ihnen die Szenerie fremd vor. Eine tiefe Stille lag über den braunen, von Zypressen gekrönten Hügeln und dem weichen Salbeigestrüpp, das an den Bewässerungsgräben wuchs. Kein Windhauch war zu spüren. Früh am Morgen hatten sich bestimmt Nebelschwaden durch die Täler geschoben. In einer Vertiefung sah Pallioti einen kleinen Tümpel glitzern. Weiße Flecken tupften den Hügelhang hinter ihnen. Schafe. Wenn er das Fenster herunterließ, würde er bestimmt das leise, monotone Klingeln der Glöckchen hören.
Er sah Eleanor an. Sie starrte wie hypnotisiert durch die Windschutzscheibe.
»Wenn wir ankommen«, befahl Pallioti, »bleiben Sie im Wagen. Sie verriegeln die Tür. Und Sie steigen erst aus, wenn ich es sage. Falls irgendwas passiert, fahren Sie los. Sie fahren zurück auf die Straße und rufen die Polizei.«
Sie nickte.
»Was erwartet uns Ihrer Meinung nach?«, fragte sie ein paar Sekunden später.
Er atmete tief durch. »Ganz ehrlich«, sagte er. »Ich habe keine Ahnung.«
Der erste Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmte, war der Jeep. Er war nirgendwo zu sehen. Der silberne Alfa parkte exakt wie zuvor, die Schnauze der Zypressenreihe zugewandt. Im Schotter sah Pallioti eine scharfe Furche, wo der Jeep zurückgesetzt hatte. Im Haus rührte sich nichts. Zwischen den Bäumen sahen sie die Pferde vor den Ställen grasen.
Er stieg aus und blieb neben dem Wagen stehen. Etwas an dieser Stille flüsterte ihm ein, ebenfalls ruhig zu bleiben. Die Blätter der Lorbeerbäume zeichneten sich fast schwarz gegen den weichen Stein des Hauses ab. Die Messingbeschläge der Fensterläden funkelten in der Sonne. Die Löwen blickten unversöhnlich über die gekreuzten Pfoten von den Stufen herab. In den Kamelien summte etwas, womöglich eine verspätete Hummel, die immer noch nach Pollen jagte, ohne zu begreifen, dass sie den Frost der kommenden Nacht nicht überleben würde.
Erst als Eleanor ihn ansprach, merkte Pallioti, dass sie die Wagentür geöffnet hatte.
»Was ist das?«
Sie saß nur noch halb auf dem Beifahrersitz und reckte den Kopf vor wie ein Hund. Ehe Pallioti sie zurechtweisen konnte, sich an seine Befehle zu halten und keine Dummheiten zu machen, hörte er es auch.
Anfangs war es nur ein fernes Echo. Dann wurde es lauter, stieg dabei an und verstummte gleich darauf wieder. Wäre ein Wind gegangen, hätte man es überhaupt nicht hören können.
Pallioti hatte sich in die entsprechende Richtung gewandt und wollte gerade um das Auto herumgehen, als die Haustür aufsprang.
»Oh! Papa, ich …« Erst in diesem Moment, gerade als sie den Fuß auf die oberste Stufe stellte, sah die Hausangestellte auf. »Oh!«, rief sie aus. »Sie sind – ich dachte, Sie sind …«
Sie versuchte, auf der zweiten Stufe innezuhalten, und verlor prompt das Gleichgewicht. Ihre Arme ruderten, die kleinen Püppchenhände reckten sich Pallioti entgegen, der sie im letzten Moment zu fassen bekam und sie auf dem Schotter zum Stehen brachte, ohne dass sie auf dem Bauch landete.
»Verzeihung! Verzeihung!« Verlegen wollte sich das Hausmädchen aus seinem Griff lösen, doch Pallioti hielt sie fest.
»Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ja.« Sie nickte. Verlegene Röte stieg unter dem Uniformkragen aufwärts und tönte die kaffeebraune Haut ihrer Wangen tiefer. »Verzeihung!«, wiederholte sie. »Ich habe gedacht, Sie sind …«
Ihr Akzent verstärkte sich vor Aufregung, bis ihr Italienisch kaum noch zu verstehen war.
»Wen haben Sie
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