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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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und so tun, als hätte es ihn nie gegeben. Aber das konnte sie nicht, denn sie hatte uns. Und Gio sah ihm so ähnlich. Vielleicht hasste ihn Mama nur so sehr, weil wir zwar nicht mehr über Papa sprachen und ihn auch nicht mehr erwähnten, aber Gio immer noch sein Gesicht trug.«
    Sie schaute ein paar Sekunden auf ihre Hände und drehte wieder den großen Ring. »Sie haben uns erzählt, sie sei an Herzschwäche gestorben«, flüsterte sie. »Aber in Wahrheit war es der Zorn. Der Hass. Der Hass hat ihr Herz verhärtet.«
    Sie schwieg. Die Uhren tickten wie ein Grillenchor.
    »Nachdem meine Mutter gestorben war«, sagte Maria Valacci, »heiratete ich. Ich dachte, Gio sei längst tot.« Sie seufzte. »Alle anderen waren es. Also ging ich einfach davon aus. Und ich hatte einen neuen Mann und …« Sie sah Pallioti an. »Damals herrschte das reine Chaos. Sie können sich das nicht vorstellen. Nichts war so, wie es früher gewesen war. Es war, als hätte jemand die ganze Welt genommen, sie durchgeschüttelt und in tausend Stücke zerschlagen und danach alles falsch zusammengesetzt.«
    Pallioti nickte und wartete darauf, dass sie weitersprach.
    »Nachdem wir geheiratet hatten«, sagte sie nach ein paar Sekunden, »zogen mein Mann und ich hierher nach Rom. Seine Familie stammt von hier. Und, also, ich versuchte, Gio ausfindig zu machen. Ich rief bei ein paar Stellen an. Schrieb an das Rote Kreuz und die CLN. Das Comitato di Liberazione Nazionale. Die hätten wissen müssen, was aus all den Partisanen geworden war. Schließlich teilte man mir mit, er sei tot. Nachdem ich sowieso damit gerechnet hatte, kam ich gar nicht auf die Idee, das anzuzweifeln.« Sie sah Pallioti flehend an, als wollte sie ihn um Vergebung bitten. »So ging es damals vielen Leuten«, sagte sie. »Niemand wusste, wer tot war und wer noch lebte oder wer wo steckte.«
    »Wie haben Sie ihn wiedergefunden?«
    Maria Valacci lächelte wehmütig.
    »Gar nicht. Er hat uns gefunden. Eines Tages stand er vor unserer Tür. Aus heiterem Himmel. Antonio war damals noch ganz klein. Es war am Nachmittag.« Sie kehrte in die Vergangenheit zurück, und ihre Augen wurden wieder schmal. »Es ist schon so lange her. Und wie gesagt, Gio und mein Mann – die beiden kamen nicht miteinander aus.« Ihre dünnen Schultern zuckten unter der Jacke. »Wir stammen aus Pisa«, ergänzte sie. »Gio und ich kamen beide dort zur Welt.«
    Pallioti runzelte die Stirn. Unbewusst war er davon ausgegangen, dass Giovanni Trantemento gebürtiger Florentiner gewesen war, ging ihm auf. Das lag natürlich an der Wohnung. Wohnungen in Häusern wie jenem, in dem Maria Valaccis Bruder gelebt hatte, wurden normalerweise von einer Generation an die nächste vererbt wie kostbare Juwelen – was sie letztendlich auch waren.
    Maria Valaccis Hände strichen über ihren Schoß und zupften an den Falten ihrer schwarzen Hose. Einen Moment lang glaubte Pallioti, sie würde nicht weitersprechen. Dann sagte sie: »Also gab es für mich keinen Grund, nach Florenz zu reisen. Und Giovanni – also, der hatte immer so viel zu tun.« Sie sah zu Pallioti auf und nickte. »Er reiste sehr viel. O ja, sehr viel«, wiederholte sie, als gefiele ihr diese Antwort, als würde sie alles erklären – die vielen ungenutzt verstrichenen Jahre, in denen sie hier gestrandet war, zwischen lauter Uhren und plüschigen Sofas und unbequemen Stühlen. »Um sein Geschäft aufzubauen«, erklärte sie noch. »Er war sehr erfolgreich, müssen Sie wissen. Ein Antiquitätenhändler.«
    Pallioti sah Antonio an. Tief ins Sofa versunken, hatte er sich von seiner Tasse abgewandt und studierte jetzt seine Fingerspitzen. Die Nägel waren stumpf und kurz geschnitten.
    »Hat er Ihnen gegenüber irgendwelche Freunde erwähnt? Geschäftsfreunde vielleicht? Jemanden, den er besuchte, wenn er nach Rom kam?«
    Noch während Pallioti die Frage stellte, erkannte er, dass sie nichts bringen würde. Nichts ließ vermuten, dass er eine andere Antwort als zuvor bekommen würde. Stattdessen deutete alles auf das Gegenteil hin. Maria Valacci und ihr Bruder waren sich tatsächlich fremd gewesen.
    »Nein«, erwiderte sie. »Ich – wie gesagt, wir standen uns nicht besonders nahe.«
    Pallioti nickte und beschloss, einen neuen Ansatzpunkt zu wählen.
    »Haben Sie zufällig ein Bild von ihm?«, fragte er. »Ein jüngeres Foto von Signor Trantemento, das wir uns vielleicht ausleihen könnten?«
    Antonio sah auf. Er beobachtete seine Mutter, als wartete er ab, ob

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