Die Toten der Villa Triste
aufwies. Sie waren so deutlich zu erkennen, dass Enzo sie genau wie den einzelnen Exekutionsschuss und das Salz hervorgehoben hatte, als er am Abend das Profil an alle europäischen Datenbanken weitergeleitet hatte. Falls das tatsächlich ein Lichtblick war, dann nur ein schwacher. Aber es bedeutete zumindest, dass sie die Waffe höchstwahrscheinlich eindeutig zuweisen konnten, falls sie gefunden wurde. Um ehrlich zu sein, war Pallioti nicht allzu optimistisch. Bis jetzt hatte Giovanni Trantementos Mörder beeindruckend professionell agiert, selbst wenn man die Brieftasche in Betracht zog – wozu Pallioti immer weniger neigte. Pallioti bezweifelte, dass er einen so dummen Fehler begehen würde, wie die Waffe in den Fluss oder einen Mülleimer zu werfen.
Während der nächsten Stunden allerdings würde er, gelobte er sich, all das vergessen.
Er schob die Unterlagen in den Aktenkoffer und sah zu, wie seine Schwester sich zwischen den Tischen zu seinem Stammplatz im hintersten Eck des Restaurants durchschlängelte. Er sah eine sechsunddreißigjährige Frau, die man aus einiger Entfernung für einen Teenager halten konnte. Seraphina war zierlich und blond, anders ausgedrückt, sie sah ihm kein bisschen ähnlich. Gelegentlich konnte er noch immer nicht recht glauben, dass sie verwandt waren.
Saffy – wie nur Pallioti und ihr Mann sie nennen durften – war vierzehn Jahre jünger als er. Sie war die Tochter der zweiten Frau seines Vaters – einer dünnen, knabenhaften Französin namens Mimi, die Pallioti senior in Paris kennengelernt und fast auf den Tag genau drei Jahre nach dem Tod von Palliotis Mutter geheiratet hatte. Pallioti war mit seiner Stiefmutter nie wirklich warm geworden, was er inzwischen bereute, weil sie sich aufrichtig um ihn bemüht hatte. Ihm, dem verklemmten, in sich gekehrten Teenager, war es peinlich und nicht nachvollziehbar gewesen, dass sein Vater wieder geheiratet hatte, und er hatte seinen Zorn an Mimi ausgelassen, indem er ihre Annäherungsversuche regelmäßig mit einem knappen Grunzen abprallen ließ. Als Saffy auf die Welt kam, hatte er so getan, als ginge ihn das nichts an. Er hatte sich ganz auf die Schule konzentriert und seine Schwester während der folgenden elf Jahre so weit wie möglich gemieden. Als sein Vater und Mimi bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, hatte Pallioti die drei seit fast fünf Jahren nicht mehr gesehen. Mit sechsundzwanzig war er bereits ein aufgehender Stern bei der Polizei, ein eher selbstgefälliger junger Mann, der alles getan hatte, um zu vergessen, dass er eine Halbschwester hatte.
Er war in Genua stationiert, als er von dem Unfall erfuhr. Sein Vater hatte keine Schuld. Ein junger Idiot hatte viel zu schnell in einer unübersichtlichen Kurve überholt. Alle Beteiligten waren noch am Unfallort gestorben.
Pallioti war die Nacht durch nach Frankreich gefahren. Am Morgen hatte er sich vor einer Klosterschule in Montpellier wiedergefunden und zu begreifen versucht, wie er einer Zwölfjährigen, die er kaum kannte, begreiflich machen sollte, dass ihre beiden Eltern gestorben waren und ein ihr praktisch fremder, arroganter junger Mann, der sie zeit ihres Lebens nach besten Kräften ignoriert hatte, ihr einziger noch lebender Verwandter war.
Als die Minute der Wahrheit gekommen war, hatte sie ihn einfach nur angestarrt. Aber etwas in ihrer steinernen Miene, in dem Blinzeln ihrer grauen Augen, mit dem sie gegen die Tränen ankämpfte, ihre stumme Resignation vor dem, was er ihr erzählte, hatte ihn zutiefst berührt. Plötzlich war er sich wie ein erbärmlicher Idiot vorgekommen und hatte sich unendlich geschämt.
Schließlich war ihm nichts weiter eingefallen, als zu fragen: »Und was willst du jetzt tun?«
Worauf Saffy geantwortet hatte: »Ich will nach Hause.«
Er hatte sie angestarrt.
»Bring mich nach Hause«, hatte sie gesagt.
»Ich kann dich doch nicht nach Hause bringen«, hatte er gestammelt. »Das geht doch nicht.«
»Warum nicht?«, hatte Saffy gefragt.
Auch wenn er überzeugt war, dass es tausend Gründe geben musste, war ihm in diesem Augenblick kein einziger eingefallen.
Inzwischen kannte Saffy ihn besser als sonst jemand auf der Welt. Falls man Pallioti gefragt hätte, hätte er offenherzig erklärt, dass er möglicherweise dazu beigetragen hatte, Seraphina zu jener Frau zu machen, die sie inzwischen war, aber dass sie das mehr als wettgemacht hatte, indem sie seine schlimmsten Instinkte vielleicht nicht ausgemerzt, aber doch
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