Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
eingewickelt. Zwei Plastiktüten, wie sich herausstellte, als sie sie herauszog und auszupacken begann. Doch sie glaubte, schon vorher zu wissen, was sie finden würde. Eine Kamera. Eine kleine, schicke Digitalkamera. Die Batterie war natürlich längst leer, aber die Speicherkarte schien unversehrt. Ursula hatte keine Ahnung, was mit dem Inhalt einer Speicherkarte passierte, wenn man sie fast ein Jahrzehnt lang in der Erde vergrub. Aber sie wusste, wen sie danach fragen konnte. Diesmal rief sie nicht an. Sie ging sofort los, um Billy zu suchen.
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S hibeka Khan machte einen sehr guten Eindruck. Sie sprach klar und energisch, und ihr Schwedisch war nahezu perfekt, mit einem großen Wortschatz. Linda wurde ganz kribbelig, als sie mit der Frau auf dem Sofa saß, über die Lennart schon so viel geredet hatte. Zu ihrer Rechten saß der Junge, der sie hereingelassen hatte, vermutlich Shibekas ältester Sohn. Seit er sich hingesetzt hatte, schwieg er, hörte jedoch genau zu und verfolgte jede Bewegung mit seinen wachen braunen Augen. Linda und Shibeka wechselten zunächst die üblichen Höflichkeitsfloskeln. Linda bedankte sich bei den beiden Frauen, dass sie bereit waren, mit ihr zu sprechen. Shibeka war freundlich und entgegenkommend, sie erklärte, wie froh sie sei, dass Linda und Lennart gekommen waren. Die andere Frau dagegen, Melika, die etwas jünger und rundlicher war als Shibeka, fühlte sich eindeutig unwohl. Das konnte Linda ihrer ablehnenden Körperhaltung ansehen und den abgehackten Sätzen anhören, die sie hin und wieder in ihrer Muttersprache von sich gab. Linda musste ihre Sprache nicht verstehen, um einzusehen, dass dieses Interview nicht einfach werden würde. Da Melika kaum Schwedisch sprach und alles, was sie sagte, von Shibeka gedolmetscht werden musste, war es für Linda noch schwieriger, Melikas Schutzmauer zu durchdringen und eine vertrauensvolle Beziehung zu ihr aufzubauen. Paschtu war eine schöne Sprache, und Linda versuchte, so verständnisvoll und interessiert wie möglich dreinzuschauen, während Shibeka ihre Fragen übersetzte. Eine Weile plauderten sie über das Wetter und ob sie sich in Schweden wohl fühlten. Schwedisch wurde zu Paschtu und wieder zu Schwedisch. Melika schien ein wenig aufzutauen, jedenfalls nickte sie mehrmals und wandte ihren Blick nicht mehr ab, wenn sie redete.
Für Linda war es wichtig, dass dieses Gespräch ein Erfolg wurde. Sie war überzeugt, dass es Lennart nicht gefiel, sie dabeizuhaben. Er war einer der besten Journalisten in der Redaktion, aber ein richtiger Einzelgänger. Also war es eine spezielle Situation. Sie war so stolz gewesen, als er sie gebeten hatte, ihn zu begleiten, und sie wollte ihm zeigen, dass sie eine Kollegin war, die etwas beitragen konnte, und keine Gegnerin.
«Wie viele Kinder haben Sie, Melika?», fragte sie.
«Sie hat einen Jungen», kam die Antwort von Shibeka.
«Wie heißt er?»
«Ali.»
Linda nickte. Dann fragte sie: «Er hat seinen Vater also nie kennengelernt?»
Shibeka übersetzte erneut, aber Melikas Antwort verstand Linda auch ohne Dolmetschen: Melika schüttelte den Kopf.
«Nein, er wurde erst im November 2003 geboren.»
Es war so traurig. Vermutlich waren Melika und sie ungefähr im selben Alter. Linda wurde im November einunddreißig. Vor drei Jahren war ihre Katze gestorben, und das war auch schon das Schlimmste, was sie bisher erlebt hatte. Melika hatte ihren Mann verloren, als sie schwanger war, und war gezwungen gewesen, ihren Sohn allein großzuziehen. Vielleicht waren sie gleich alt, aber ihre Leben hätten nicht unterschiedlicher sein können.
«Das muss eine schwere Zeit gewesen sein», sagte Linda. «Darf ich Ihnen noch weitere Fragen über Ihren Mann stellen?»
«Sie fragt, warum», antwortete Shibeka, während Melika entschieden den Kopf schüttelte.
«Wir wollen sehen, ob wir Ihnen dabei helfen können herauszufinden, was passiert ist. Deshalb sind wir hier. Um Ihnen zu helfen.»
Shibeka sah Melika an und sagte einige kurze Sätze in der schönen Sprache. Melika antwortete ihr. Ihre Stimme klang feindselig. Shibeka sah Linda ein wenig beschämt an.
«Sie fragt, wie Sie ihr helfen wollen.»
Linda nickte verständnisvoll, noch wollte sie nicht aufgeben. Sie musste einen Zugang zu dieser abweisenden Frau finden. «Wir versuchen, die Wahrheit herauszufinden.» Sie versuchte, ihren Satz mit einem Lächeln zu unterstreichen. Keine Reaktion.
Shibeka wandte sich wieder ihr zu und sah
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