Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
in seinem kleinen Büro im siebten Stock der Polizeiverwaltung und legte letzte Hand an eines seiner Gutachten, als jemand gegen den Rahmen der geöffneten Tür klopfte. Håkan hob die Hand und beendete ohne Eile den Satz, den er gerade schrieb. Dann drehte er sich mit einer Miene um, die, wie er hoffte, ausdrückte, dass er sehr beschäftigt war. Vergebens.
Der wie auch immer geartete Ausdruck auf seinem Gesicht verwandelte sich sofort in pure Verwunderung, als er sah, wer in seiner Tür stand.
Sebastian Bergman.
Håkan Persson Riddarstolpe hätte auf der Stelle hundert Personen aufzählen können, mit deren Besuch er eher gerechnet hätte, zum Beispiel König Carl Gustaf und Meg Ryan – von der er insgeheim schon lange hoffte, dass sie eines Tages an seiner Tür klopfen würde, nämlich seit er im Jahr 1989 Harry und Sally gesehen hatte.
«Hallöchen, wie geht’s, wie steht’s?», fragte Sebastian, als würde er regelmäßig seinen Kopf durch diese Tür stecken und einen Schwatz halten. In Wahrheit hatten sie sich schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen, mindestens zehn, wenn Håkan nicht alles täuschte.
«Was zum Teufel willst du?»
Håkan konnte weder seine Verwunderung noch seine Verärgerung unterdrücken.
«Kann ich kurz reinkommen?», fragte Sebastian und stand im nächsten Moment in dem Büro, ohne das Nein abzuwarten, das er mit großer Sicherheit erhalten hätte. Er hob ein paar Ausdrucke und Mappen von einem Stuhl und ließ sich nieder.
Voller Abscheu betrachtete Håkan Persson Riddarstolpe jenen Mann, der sich soeben selbst eingeladen hatte. Es war so typisch.
Sebastian Bergman wollte hereinkommen und sich setzen.
Und Sebastian Bergman kam herein und setzte sich.
Ohne auch nur darüber nachzudenken, ob es gerade passte oder nicht, ob der andere Besuch empfangen wollte oder nicht. Während der zehn Jahre, in denen sie sich nicht begegnet waren, hatte sich also nichts verändert. Die Welt schien sich noch immer um Sebastian zu drehen.
Eine Zeitlang hatten sie sich tatsächlich häufiger unterhalten. Sie waren etwa im selben Alter, hatten eine ähnliche Ausbildung und arbeiteten bei derselben Institution. Sie Freunde zu nennen, wäre vielleicht übertrieben gewesen, aber sie hatten auf jeden Fall eine berufliche Beziehung gepflegt, die, wenn schon nicht auf Freundschaft, so doch zumindest auf gegenseitigem Respekt basierte – das hatte Håkan zumindest lange geglaubt.
1999 war Sebastian auf dem Gipfel seiner Karriere gewesen. Mit seinen beiden Büchern über Edward Hinde hatte er viel Aufsehen erregt – zu Recht, wie Håkan zugeben musste. Sebastian war zu einer großen Autorität auf seinem Gebiet geworden. Jemand, den man in Nachrichtensendungen und auf Talkshow-Sofas einlud, damit er die brutalsten Verbrechen beleuchtete und ein Bild von den Menschen zeichnete, die sie verübt hatten. Eine Rolle, die von Leif GW Persson übernommen worden war, seit Sebastian sich von dem Medienrummel zurückgezogen hatte. Aber anstelle von GW Persson hätte auch Persson Riddarstolpe im Fernsehstudio sitzen und mit ruhiger Stimme komplizierte Kriminalfälle analysieren können.
Hätte können.
Und hätte sollen.
Wenn Sebastian Bergman nicht gewesen wäre.
1998 war Sebastian nach Deutschland gezogen, nach Köln, wenn Håkan sich recht erinnerte, und hatte somit das Feld für einen Nachfolger geräumt.
Nur wenige Monate später fand man in einem Grubenbau außerhalb von Sala drei tote Mädchen. Die Kommune wollte den alten Schacht, der seit den fünfziger Jahren geschlossen war, für die Öffentlichkeit zugänglich machen. Als man dort unten die Statik kontrollierte, machte man den grausigen Fund. In einem der Schächte saßen drei tote Mädchen im Teenageralter zwischen Kissen, Stofftieren und abgebrannten Duftkerzen. Die rechtsmedizinische Untersuchung ergab ziemlich schnell, dass sie infolge eines oral eingenommenen Giftes gestorben waren. Am Fundort fand man auch eine geblümte Thermoskanne mit Resten vergifteten Tees, außerdem lag neben einem der toten Mädchen eine Tasse.
Und Sebastian war nicht mehr da. Den Medien war eine Lücke entstanden, die es nun auszufüllen galt. Håkan Persson Riddarstolpe, damals wie heute bei der Polizeiverwaltung angestellt, witterte seine Chance. Es wäre dumm gewesen, die Gelegenheit nicht beim Schopf zu packen. Über den Fall wurde ungeheuer viel berichtet. Man musste den Menschen erklären, was die drei Mädchen – die offenbar sehr einsam gewesen waren
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