Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
Reichspolizeiverwaltung wenden. Wer sucht, der findet, dachte sie. Zwar hatte ihre Recherche viel Zeit in Anspruch genommen, aber nun sah sie immerhin einen möglichen Zugang. Die Bandsicherung musste sich in diesem Gebäude befinden. Der Name des Beamten, der die Datei über die beiden Afghanen erstellt hatte, war erst vor vier Tagen gelöscht worden. Also bestand die Möglichkeit, dass die unveränderte Datei, das Original, noch existierte.
Die Frage war, wie lange man die Backups aufhob. Anitha wusste, dass die Bänder wiederverwendet wurden, es wäre unmöglich, alles aufzuheben, denn dafür bedürfte es riesiger Lager. Aber sie ging davon aus, dass man sie länger als einen Monat aufhob, also waren die Chancen groß, das Originalband zu finden.
Aber wie realistisch war es, dass sie an das Material herankam?
Da sie weder die Befugnis noch das Wissen besaß, die Technik zu bedienen, benötigte sie Hilfe. Und sie hatte auch eine Idee, wo sie die bekommen konnte.
Er war verwundert, als sie bei ihm anklopfte. Morgan Hansson trug ein weißes Hemd, das über seinem Bauch spannte, und eine Hornbrille. Außerdem hatte er halblange, lockige braune Haare und einen Bart. Einen enormen Bart. Der Bart war das Erste, was einem ins Auge stach. Der Mann erinnerte über seinem Schwabbelbauch an einen verwilderten Busch. Das Zweite, was an ihm auffiel, waren die braunen Sandalen, die er immer trug. Er sah aus wie die Karikatur eines Informatikers – der er ja schließlich auch war. Sein Büro war staubig, überall lagen Papiere herum, und in den Regalen stapelten sich alte Monitore und Computer. Der wenige Platz, der noch blieb, war mit grauen Kabeln, Druckerpatronen, Harddisks und anderem ausrangierten Zubehör vollgestellt. Alles, was im Polizeipräsidium defekt war und mit Computern zu tun hatte, schien bei ihm zu landen. Morgan ließ die Kabel, die er in der Hand hielt, auf den Schreibtisch fallen, um Anitha zu begrüßen. Seine Hand war warm und feucht. Es konnte sich nur um Schweiß handeln.
«Hallo, kann ich dir helfen?»
Anitha sah sich in dem Durcheinander um und fühlte sich unwohl. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihm ihr Problem erklären sollte.
«Nein, ich habe nur einen Spaziergang gemacht.»
«Hierher?»
«Ja, weiß du, ich musste mal ein bisschen auf andere Gedanken kommen. Und weg vom Chef.»
Er lachte verständnisvoll. Sie lächelte ihn an und bemerkte, dass er ihr gegenüber fast ein wenig schüchtern wirkte, als er einige Kartons von dem Stuhl vor seinem Schreibtisch hob, damit sie sich setzen konnte.
«Bitte, nimm doch Platz.»
Anitha schüttelte den Kopf. «Nein, danke. Ich wollte eigentlich nur fragen, ob du vielleicht Lust hast, mit mir Mittagessen zu gehen.»
Der Gedanke, ihn für einen Moment zu entführen, war ihr ganz spontan gekommen. Sie hatte schon seit längerem den Verdacht, dass er ein wenig in sie verschossen war. Jedenfalls wurde sie ausschließlich von ihm angerufen, wenn sie sich bei der IT-Abteilung über irgendetwas beschwerte. Und er nickte ihr immer zu, wenn sie sich begegneten.
Offenbar lag sie richtig, denn Morgan errötete, und sein Blick flackerte unsicher hin und her, ohne dass er ihr in die Augen sehen konnte. Ein bisschen süß war er irgendwie schon. Viel zu rundlich und viel zu haarig, aber niedlich. Wie ein zotteliges Haustier.
«Vorausgesetzt, du hast überhaupt Zeit», fügte sie mit einem erneuten Lächeln hinzu.
Er sah sie an, ehrlich erstaunt über die Frage. «Natürlich habe ich Zeit.»
Er schaute sich um und nahm seine an den Armen viel zu kurze, beige Jacke vom Stuhl. Anitha fragte sich, ob er überhaupt eine andere besaß. Sie hatte ihn jedenfalls noch nie in etwas anderem gesehen als in diesem farblosen, viel zu sportlichen, ein wenig Ralph-Lauren-inspirierten Blouson mit dem braunen Lederkragen. Er passte überhaupt nicht zu ihm. Vielleicht zu einem Golfer oder Unternehmensberater, der sich jugendlich geben wollte. Aber nicht zu einem Mann, der wie ein Troll aussah.
«Wollen wir hier etwas essen oder lieber außerhalb?»
«Außerhalb, oder?», schlug sie schnell vor.
Es war gut, mal hier rauszukommen, und in der Kantine bestand die Gefahr, dass die Kollegen sie zusammen sahen. Das wollte sie nicht riskieren.
Sie verließen das Polizeigebäude durch den Ausgang Kungsholmsgatan. Immerhin regnete es nicht mehr, die Sonne war dabei, sich durch die Wolkendecke zu kämpfen.
Morgan blieb stehen und wirkte etwas hilflos. «Wo sollen wir denn hin?»,
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