Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
schlimmste Verzweiflung lindern. Ansonsten hatte er hier oben sowieso nichts Vernünftiges zu tun.
Sechs Skelette und ein Autounfall.
Nicht gerade etwas, wo sein Können gefragt war. Was also sollte er machen? Obwohl der Regen aufgehört hatte und die Gegend nun in goldenem Herbstwetter erstrahlte, hatte er keine Lust, vor die Tür zu gehen. Er war eine halbe Stunde am Fluss entlangspaziert, hatte die Landschaft gesehen, das musste reichen. Dieses Geschwafel von irgendwelchen Naturerlebnissen hatte er noch nie verstanden. Große, leere Landschaften waren seiner Meinung nach ziemlich überschätzt. Warum sollte es besser sein, mehrere Kilometer weit zu sehen als wenige hundert Meter? Natürlich waren Wasserfälle mächtig, und Berge konnten dramatisch sein, aber sie gaben ihm nichts. Sprachen ihn nicht an. Als er in den USA gelebt hatte, war er umhergereist. Hatte den Grand Canyon gesehen, die Rocky Mountains und die Niagarafälle. Hatte die Leute «Oh!» und «Ah!» rufen und darüber reden hören, wie man angesichts dieser Großartigkeit an seine eigene Winzigkeit erinnert wurde.
Als ob das etwas Positives wäre.
Idioten.
Er nahm seine Jacke vom Haken neben der Tür und ging zurück zum Eingang. Zurück zu Vanja.
Sie schwiegen fast die gesamte Fahrt über, aber das störte Sebastian nicht. Es gab unterschiedliche Arten von Schweigen. Diese war angenehm. Nicht feindlich und ausgrenzend, keine kühle Stellungnahme, sondern eine natürliche Stille zwischen zwei Menschen, die nicht jede Sekunde mit Geschwätz füllen mussten. Hier und da kommentierten sie etwas, das sie sahen, meistens Vanja, und meistens ging es um die Natur, durch die sie fuhren. Sie erzählte, dass sie auch gern einmal im Fjäll wandern würde. Den gesamten Kungsleden von Abisko bis Hemavan. Sich dafür Zeit nehmen. Mit Rucksack, Zelt und Mückenschutz. Das Rundumerlebnis. Aber wahrscheinlich werde es bis dahin noch eine Weile dauern, wenn sie nun tatsächlich in die USA gehen würde.
Sebastian ignorierte Vanjas Köder. Er wollte nicht darüber sprechen, dass sie wegzog. Er wollte diesen Moment genießen, in dem sie gemeinsam durch die Gebirgslandschaft brausten und sich in der Gesellschaft des anderen wohl fühlten. Außerdem hatte er eine Entscheidung getroffen. Sie würde nicht fahren. Noch wusste er nicht genau, wie er es verhindern würde, aber eine embryonenhafte Idee nahm in seinem Kopf bereits Formen an. Der Gedanke war jedoch noch lange nicht vollständig entwickelt.
«Der Kungsleden wird dir ja nicht weglaufen», erwiderte er nur und sah aus dem Fenster, ängstlich, sie könne seine Gedanken lesen. Vanja war immerhin Polizistin und hatte ein geradezu unheimliches Talent, herauszuhören, ob Menschen logen oder etwas zu verbergen hatten.
«Läufst du Ski?», fragte Vanja, als sie sich Åre näherten und linker Hand die breiten Slalomhügel und das Stahlgerüst des Liftes auftauchten.
«Nein, du?»
«Nicht oft und nicht besonders gut, aber ich komme schon irgendwie nach unten.»
«Hast du das Skifahren von deinem Vater gelernt?»
Vanja drehte blitzschnell ihren Kopf nach rechts und sah Sebastian fragend an. Klang sein Tonfall nicht etwas … angespannt? Sebastian starrte weiter aus dem Fenster.
«Ja. Warum fragst du?»
«Ach, nur so», antwortete Sebastian und zuckte mit den Schultern. «Scheint mir eben eine Sache zu sein, die Eltern ihren Kindern beibringen.»
Wie das Schwimmen, dachte er und spürte, wie sich seine rechte Hand verkrampfte. Er streckte die Finger und lehnte den Arm an das Seitenfenster. Jetzt musste er sich wirklich zusammenreißen. Der Traum war eine Sache, darüber hatte er keine Kontrolle, aber dass er sogar jetzt in diesen Gedankenstrudel geriet? Hier. Mit Vanja im Auto. Sosehr die toten Kinder im Fjäll ihm auch zusetzen mochten, Sebastian war immer noch Herr über seine Gedanken. Sie waren ein Teil seines Erfolgs, seiner Größe. Er hielt seine Intelligenz im Zaum, erlaubte es ihr nie, frei umherzuschweifen, sondern zwang sie immer dazu, für ihn zu arbeiten. Die absolute Gewalt über sich selbst – danach strebte er, und das erreichte er meistens auch.
«Warst du eigentlich nie verheiratet?», fragte Vanja plötzlich, als sie den Tegel-Berg passierten.
Sebastian erstarrte. Er konnte zwar seine eigenen Gedanken lenken, nicht aber das Gespräch mit Vanja, wie ihm jetzt deutlich wurde. Schnell ging er die Antworten durch, die er zur Auswahl hatte. Ihr sagen, dass es sie nichts anging? Nicht gut: Das
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