Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
zweiten Mal durchgegangen war und alle Stellen unterstrichen hatte, die noch Fragen aufwarfen, rief sie Kenneth zu sich und hoffte, dass er ihr einige davon beantworten konnte.
Zwanzig Minuten später hatte Vanja unter anderem die Namen derjenigen, die den Unfall gemeldet und die das Auto später abgeschleppt hatten. Sie bedankte sich bei Kenneth, suchte alle Dokumente zusammen, die sie von hier mitnehmen wollte, und ging die Treppe hinab.
Sebastian stand an der Rezeption. Die Frau hinter dem Tresen lachte lauthals und war gerade dabei, etwas auf die Rückseite einer Visitenkarte zu schreiben. Ihre private Telefonnummer, vermutete Vanja, als die Polizistin Sebastian die Karte mit einem Zwinkern reichte.
«Bist du fertig?», fragte Vanja, während sie an Sebastian vorbeiging.
«Ja. Und du?»
Vanja antwortete nicht, sondern schob nur die Tür auf und trat ins Freie. Sie nahm ein paar tiefe Atemzüge in der frischen Herbstluft, während sie zum Auto ging. Es war schön, den fischigen, sauerstoffarmen Mief in der Küche der Polizeistation endlich hinter sich zu lassen. Und gleichzeitig half das Durchatmen auch gegen ihre heftig anwachsende Irritation. Es war dumm, redete sie sich ein. Idiotisch. Eigentlich brauchten Sebastians Frauengeschichten sie überhaupt nicht zu kümmern. Aber irgendetwas an dem fast zwanghaften Bedürfnis, jede Frau, die ihm begegnete, ins Bett zu kriegen, fand Vanja zutiefst abstoßend. Unangenehm. Sie ertappte sich dabei, dass sie sich seiner fast ein bisschen schämte. Gleichzeitig hatte sein Benehmen auch etwas Tieftrauriges an sich. Traurig und verzweifelt. Was war es eigentlich, das ihm fehlte? Welche Leere wollte er mit diesen flüchtigen Bekanntschaften füllen? Egal, Sebastian Bergman gehörte derzeit der Reichsmordkommission an und repräsentierte sie, und da erschienen solche Auftritte ausgesprochen unangemessen. Doch Vanja hatte nicht vor, mit ihm darüber zu diskutieren. Sie würde es Torkel gegenüber erwähnen. Sollte er entscheiden, wie damit umzugehen war.
Als Sebastian die Tür öffnete und nach draußen kam, hörte Vanja, wie die Frau an der Rezeption erneut lachte und ihm ein «Bis bald!» hinterherrief. Wenige Sekunden später hatte er sie grinsend eingeholt.
«Und was haben wir jetzt vor?», fragte er und öffnete die Beifahrertür.
«Ich habe eine Adresse», antwortete Vanja und ging um den Wagen herum.
«Von wem?»
«Von dem Typen, der das Auto gefunden hat.»
«Warum sollten wir mit dem reden?»
«Weil er das Auto gefunden hat.»
Vanja öffnete die Fahrertür und stieg ein. Sebastian blieb stehen und ließ sich die kurze Konversation noch einmal durch den Kopf gehen. Vanja war sauer. Natürlich war es möglich, dass Kenneth sie enttäuscht hatte, aber noch wahrscheinlicher war es wie gewöhnlich: dass er der Grund war.
«Liegt es an Bodil?», fragte er, als sie auf eine Lücke in dem Verkehrsstrom aus dem Tunnel unter dem Slalomhügel warteten, damit sie nach links auf die E14 abbiegen konnten.
«Wer ist Bodil?»
«Die Dame von der Rezeption. Ich muss nicht mit ihr ins Bett, wenn es dir nicht recht ist.»
Vanja bog auf die breite Straße ab und trat das Gaspedal durch, sodass sie das Tempolimit schon bald um fünfzehn Stundenkilometer überschritten hatten. Dieser Mann war ihr wirklich ein Rätsel. Vanja wäre nie auf die Idee gekommen, mit einem Kollegen über ihr Sexleben zu sprechen. Nicht einmal Billy, den sie als engen Vertrauten ansah, erfuhr von ihr intime Details oder teilte welche mit ihr. Aber das war offenbar nur eine weitere dieser Hemmschwellen, die bei normalen Menschen wirksam waren und die Sebastian Bergman nur zu gern überschritt.
«Warum glaubst du, dass es mich interessiert, mit wem du ins Bett zu gehen planst oder nicht?», fragte Vanja mit ehrlicher Neugier.
«Weil du sauer wirkst.»
«Bin ich aber nicht.»
Sebastian nickte vor sich hin. Der Kreis hatte sich wieder geschlossen. Sie hatten eine ganze Runde hinter sich gebracht. Mit demselben Ergebnis wie sonst auch. Sie kamen nicht weiter. Vanja drehte das Autoradio lauter.
P4 Jämtland. Es ging um irgendeinen Bären.
Dann folgte eine Schnulze von Roger Pontare.
Sie fuhren schweigend weiter.
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L ennart hatte den ganzen Tag über versucht, Linda Andersson aus dem Weg zu gehen. Mit mäßigem Erfolg. Dass sie im selben Großraumbüro saßen, machte die Sache natürlich nicht einfacher. Sture hatte ihr sicher gesagt, sie solle Lennart ansprechen, wenn er
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