Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
engen Kontakt zu seiner Tochter.
Natürlich wünschte er sich auch, dass sie für die Ausbildung angenommen wurde. Er war schon immer unglaublich stolz auf sie gewesen. Doch als sie damals bei der Reichsmordkommission anfing, hatte er lediglich Freude und Stolz verspürt. Jetzt waren seine Gefühle mit einer gewissen Sorge durchmischt, und er hatte ein Ziehen in der Brust, wenn er an ihre Abreise dachte. Obwohl sie ihn erst in einigen Monaten wirklich verließ.
Allein würde er nicht sein, und ihm würde es weder an Liebe noch an Nähe fehlen. Anna und ihm ging es gut, sie liebten einander noch immer, und wenn er sich mitunter seine Zukunft ausmalte – wie sie aussehen würde, was seine Pläne waren –, dann war Anna in seinen Gedanken immer dabei. Aber seine Beziehung zu Vanja war besonders, sie standen einander von Anbeginn so nahe. Als sie klein war, war er geduldiger mit ihr gewesen als Anna. Hatte gern mit ihr gespielt und sich ihren Bedürfnissen angepasst, und Anna war dankbar, dass sie nicht musste. Wenn sich andere Männer an seinem Arbeitsplatz über ihre Teenie-Töchter beklagten, von Auseinandersetzungen und Wutausbrüchen erzählten und von dem Gefühl, sie hätten eine Außerirdische bei sich wohnen, hatte Valdemar Vanja nie darin wiedererkannt. Er hatte immer mit seiner Tochter reden können. Mit ihr diskutieren, Entscheidungen gemeinsam treffen. Vielleicht lag es daran, dass sie immer schon sehr reif für ihr Alter war. Aber am liebsten führte er es darauf zurück, dass ihnen ihre Beziehung so wichtig war, dass sie sie gar nicht erst einer Belastungsprobe unterziehen wollten. Anna hatte mit Vanja während deren Pubertät erheblich mehr zu kämpfen gehabt und deshalb die meisten Entscheidungen und das Aufstellen von Verhaltensregeln ihm überlassen. Überhaupt hatten Anna und Vanja eine kompliziertere Beziehung. Zwar gab es zwischen ihnen keine offenen Auseinandersetzungen und keine harten Worte – aber sie standen einander auch ganz einfach nicht so nah.
Vanja war immer schon ein Papakind gewesen. Und jetzt würde sie ihn verlassen.
Als sie von ihren Plänen erzählte, war sein erster Gedanke gewesen, sie nicht gehen zu lassen. Es ihr zu verbieten. Sie auf irgendeine Weise zurückzuhalten. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er sie zum ersten Mal bewusst angelogen. Gesagt, dass er es für eine gute Idee halte. Und in den darauffolgenden Wochen hatte er gegen seine heimliche Hoffnung angekämpft, dass sie die Prüfungen nicht schaffte. Er hatte sich selbst davon überzeugen müssen, dass sie es wirklich wollte. Dass diese Ausbildung sie, und damit auch ihn, glücklich machen würde. Inzwischen wünschte er sich von ganzem Herzen, dass sie es schaffte, auch wenn er sich vor ihrer Abwesenheit fürchtete.
Er verdrängte die finsteren Gedanken, ging zurück in die Küche, trank ein Glas Wasser und sah erneut auf die Uhr. Jetzt musste er wirklich los. Er stellte sein Glas in die Spülmaschine und wollte gerade im Flur seine Schuhe anziehen, als sein Handy klingelte. Es war Annika, seine Sekretärin. Er nahm das Gespräch an und bekam eine lange und hektische Tirade zu hören. Er verstand nicht alles, was Annika sagte. Sie schien sehr aufgebracht, und er hoffte, dass er sich verhört hatte. Als sie geendet hatte, bat er sie, sich zu beruhigen und alles noch einmal zu wiederholen. Er musste sich beherrschen, mit fester Stimme zu sprechen. Annika holte tief Luft und bestätigte ihm sofort, dass er sie schon beim ersten Mal richtig verstanden hatte. Die Polizei sei dagewesen, sie habe Material angefordert, das mehrere Jahre alt war, und er solle so schnell wie möglich ins Büro kommen. Valdemar beendete das Gespräch mit den Worten, er sei auf dem Weg.
Er blieb im Flur stehen und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Die Polizei war bei ihm gewesen. Und es konnte nur um diese eine Sache gehen. Warum jetzt? Warum schon wieder?
Bisher war er doch immer davongekommen.
Er hatte damals eine Abkürzung genommen.
Die Voruntersuchung war eingestellt worden. Aus Mangel an Beweisen.
Er hatte es seiner Familie zuliebe getan.
Aber natürlich war es ein Fehler gewesen. Ganz einfach, ein Fehler. Er hatte es hinter sich gelassen, vergessen, verdrängt.
Es war ein einfacher Weg gewesen, um ihnen etwas zu geben, was er ihnen sonst nicht hätte geben können.
Die Polizei wäre nicht erneut gekommen, wenn sie nicht überzeugt davon wäre, dass sie ihn diesmal überführen konnte. Wie war es eigentlich so
Weitere Kostenlose Bücher