Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
sowieso ausrechnen, dass Vanjas Anruf mit ihrem Vater zu tun hatte. Aber das, worum Vanja sie bitten wollte, ließ sich nicht über eine Mailbox klären. Schon in einem Gespräch würde es schwierig werden. Dann wählte sie die Nummer von Stig Wennberg, dem Staatsanwalt. Ingrid Ericssons Namen hatte Vanja bisher nicht gekannt, von Wennberg hatte sie dagegen in ihrer Arbeit schon öfter gehört. Er hatte einen guten Ruf, und sie erinnerte sich, dass einige Kollegen es bedauert hatten, als er vor einigen Jahren zur Wirtschaftskripo gewechselt war.
Wennberg meldete sich nach dem zweiten Klingeln. Vanja hörte im Hintergrund Kinderstimmen und nahm an, dass er zu Hause war. Er klang gestresst, entspannte sich jedoch ein wenig, als sie erklärte, dass sie Polizistin sei. Vermutlich glaubte er, sie würde ihn wegen irgendeines Falls anrufen, und fragte sofort, wie er ihr helfen könne.
Sie sagte es ihm.
Sein leichter Tonfall war schnell verflogen.
«Das geht nicht. Das werden Sie doch wohl verstehen?»
In seiner Stimme lag ein dunkler Ernst, den Vanja vorher nicht herausgehört hatte. Es würde nicht einfach werden. Sie war zu einem Balanceakt gezwungen, denn sie nahm einen Verstoß gegen die Dienstregeln in Kauf, wenn sie ihn zu sehr bedrängte, was sie in ihrem tiefsten Inneren aber gern getan hätte. Am liebsten hätte sie ihn einfach angeschrien, dass sie sofort ihren Vater treffen musste. Regeln hin oder her. Aber das ging nicht. Sie musste ihre Zunge im Zaum halten und ihre Bitte bedachtsam formulieren.
«Ich weiß, dass es eine ziemlich zweifelhafte Anfrage ist», sagte sie vorsichtig. «Aber ich muss meinen Vater wirklich dringend treffen.»
Sie erhielt nur einen tiefen Seufzer zur Antwort.
«Ich stecke mitten in einem Fall, das Massengrab im Jämtland, von dem Sie vielleicht schon gehört haben», fuhr Vanja fort und versuchte es mit einer neuen Strategie. Wenn er einer Tochter nicht helfen wollte, dann vielleicht einer Polizistin. «Ich muss herausfinden, was mit meinem Vater ist, damit ich wieder an dem Fall weiterarbeiten kann.»
«Arbeiten Sie bei der Reichsmordkommission? Für Torkel Höglund?»
«Ja, ich bin in seinem Team.»
Sie hörte, wie Wennberg eine Sekunde zögerte. Vielleicht konnte sie ihn doch knacken.
«Kennen Sie Torkel?», fragte sie in einem bemüht neutralen Ton.
«Ja, aber glauben Sie nicht, dass Ihnen das helfen wird.»
Die Tür wurde genauso schnell zugeschlagen, wie sie sich geöffnet hatte. Doch Vanja gab nicht auf. Sie versuchte, sie leise wieder aufzuschieben, vorsichtig, ohne den Staatsanwalt zu sehr zu verärgern.
«Natürlich könnte ein Wachmann dabei sein. Ich wäre mit allen Auflagen einverstanden.»
«Die Restriktionen wurden von der leitenden Ermittlerin angeordnet, es ist ihre Entscheidung.»
«Natürlich. Aber Restriktionen sind oft sehr eng gefasst. Sie als verantwortlicher Staatsanwalt könnten doch eine Ausnahme zulassen.»
Wennberg schwieg. Aber er legte nicht auf. Immerhin. Solange sie mit ihm redete, hatte sie noch eine Chance.
«Wie gesagt, ich weiß, dass das eine merkwürdige Anfrage ist. Aber ich kann ehrlich gesagt nicht erkennen, warum sie Ihnen Probleme bereiten sollte. Wenn etwas passieren würde, dann würde ich meinen Job verlieren. Die Einzige, die dabei ein Risiko eingeht, bin ich.»
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie an ihre FBI-Ausbildung. Könnte das ihre Chancen negativ beeinflussen? Sie schämte sich. Warum kam ihr dieser Gedanke ausgerechnet jetzt? Sie musste an Wichtigeres denken. An denjenigen, der ihr am meisten bedeutete.
Ihren Vater.
Auf ihn musste sie sich konzentrieren. Nicht auf sich selbst.
Am anderen Ende der Leitung waren die Kinder plötzlich ruhig, oder Wennberg war in ein anderes Zimmer gegangen, um ungestört reden zu können.
«Torkel soll mich anrufen und für Sie bürgen. Das ist das Einzige, was ich mir vorstellen kann», sagte Wennberg schließlich.
«In Ordnung. Danke! Er wird Sie sofort anrufen. Versprochen. Er wird anrufen», sprudelte Vanja hervor.
«Aber ein Wachmann wird dabei sein. Zehn Minuten. Höchstens.»
«Ja. Gut. Natürlich. Vielen Dank.»
«Danken Sie lieber Torkel, wenn es klappt.»
Dann legte er auf. Vanja stand mit dem Handy in der Hand da. Die erste Hürde hatte sie genommen. Aber jetzt musste sie mit Torkel reden. Sie überlegte, wie sie ein Gespräch einleiten sollte, von dem sie nicht in ihrer wildesten Phantasie geglaubt hatte, es eines Tages führen zu müssen.
Hallo,
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