Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
Torkel.
Ich brauche deine Hilfe.
Mein Vater wurde festgenommen.
Valdemar wunderte sich, als der Wachmann ihn holte. Er hatte geglaubt, dass vor dem morgigen Tag nichts mehr passieren würde. Aber was wusste er schon von den Abläufen in einem Untersuchungsgefängnis? Er hatte so lange in derselben Stellung auf dem harten Bett gesessen, dass seine Beine sich jetzt steif und taub anfühlten und seine ersten Schritte unsicher waren. Der Wachmann führte ihn durch den grün gestrichenen, kahlen Flur zum selben Verhörraum, in dem Valdemar auch zuvor gesessen hatte. Bat ihn, auf demselben Stuhl vor demselben Tisch Platz zu nehmen und zu warten. Die Steifheit in seinen Beinen ließ nach, doch stattdessen kehrte der Schmerz in seinen Lendenwirbeln zurück. Er fühlte sich alt und erschöpft, schlimmer noch, er hatte das Gefühl, dass er geistig nicht mehr ganz auf der Höhe war, als säße er in diesem Raum und doch auch nicht. Seine Gedanken überschlugen sich. Es war so schnell gegangen. Als die Polizistin aufgetaucht war. Die ersten Verhöre.
Wie er in die Zelle kam.
Und jetzt offenbar noch einmal verhört werden sollte.
Wahrscheinlich war es ein Teil ihrer Strategie, ihn zu verwirren.
Es funktionierte.
Er musste sich zusammenreißen und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Jetzt hörte er von draußen Geräusche und richtete sich auf seinem Stuhl auf. Er würde so wenig wie möglich sagen. Das war seine Taktik. Beim letzten Mal hatte sie funktioniert. Vielleicht würde es auch diesmal so sein.
Dann wurde die schwere Tür geöffnet, und als er hinter dem Wachmann eine Person erahnen konnte, wurde er beinahe panisch. Aber das konnte – das durfte – nicht sein! Für einen Moment stellte der Wachmann sich in die Tür, und die Person verschwand aus Valdemars Blickfeld. Er hoffte, dass es nur eine Halluzination gewesen war, dass da sonst niemand wäre, wenn der Wärter den Raum beträte. Oder dass die selbstsichere Ermittlerin von der Wirtschaftskripo dort stünde. Wer auch immer, nur nicht sie.
Doch dann sah er sie. Begriff, dass sie es wirklich war. Dass sie hier war. Genauso blass und verwirrt wie er selbst. Sie hatte den Blick auf ihn gerichtet, mit einem Ausdruck, den er nicht deuten konnte. Er versuchte, tapfer zu lächeln, aber er wusste, dass es sinnlos war. Hier, in diesem Raum, in dieser Situation, war es sinnlos zu lächeln.
«Hallo, Vanja», sagte er so ungezwungen, wie er es vermochte.
Sie antwortete nicht. Stumm betrat sie den Raum und ging zu dem freien Stuhl vor ihm, blieb jedoch stehen. Für einen kurzen Moment überlegte Valdemar, ob er sich weigern konnte, sie zu treffen. Ob er den Wärter bitten sollte, wieder in seine Zelle gehen zu dürfen. Vielleicht würde das alles leichter machen.
Für sie.
Nicht für ihn.
Er war jetzt verloren, das begriff er. Die Abkürzung, die er genommen hatte, hatte ihn auf Irrwege geführt, und jetzt war er verloren. Sie würde ihm nie verzeihen. Ihn vielleicht verstehen, wenn er wirklich versuchte, sich zu erklären. Aber wie sollte er etwas erklären, das er nicht einmal selbst verstand?
«Was hast du getan, Papa?», fragte sie unvermittelt.
Er senkte den Blick und starrte auf seine Hände. Auch sie sahen alt aus. Faltig und geädert. Vielleicht würde sie seine Hände nie wieder in ihre nehmen.
Der Wärter schloss die Tür hinter sich und kam zum Tisch.
«Folgendermaßen», erklärte er respekteinflößend, «Sie haben zehn Minuten. Ich bleibe dabei.»
Vanja nickte. Der Wärter ging und setzte sich auf einen Hocker in einer Ecke des Raums. Er lehnte sich entspannt gegen die Wand und versuchte, so desinteressiert wie möglich auszusehen.
Valdemar sah seine Tochter an, die immer noch vor ihm stand. Sie musste schon oft in diesem Raum gewesen sein, aber so hatte sie ihn vermutlich noch nie erlebt.
«Was hast du getan, Papa?», wiederholte sie, diesmal energischer.
Valdemar spürte, dass er gezwungen war, die Wahrheit zu sagen.
«Etwas Dummes, fürchte ich.»
Sie zog den Stuhl heran und ließ sich darauf fallen. Betrachtete ihn. Er schien innerhalb weniger Tage um Jahre gealtert zu sein. Sie wollte so vieles sagen. Hatte so viele Fragen. Es gab so vieles, was sie wissen musste. Aber mit dem Wachmann im Raum konnte er nicht auf alles antworten. Vielleicht war das auch gut so. Die Begegnung mit ihm traf sie mehr, als sie gedacht hätte. Sie musste zu neutraleren Fragen übergehen, damit sie sich sammeln konnte.
«Hast du einen Anwalt?»
«Nein»,
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