Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
meinem Auto gegangen, habe einen Satz Dietriche geholt, das Kofferraumschloss geknackt und mir genommen, was drinnen lag», antwortete er und stellte währenddessen vorsichtig das Glas zurück auf den Tisch, damit er sie nicht ansehen musste.
Ursula blickte ihn an und spürte, wie eine tiefe Abscheu in ihr aufkam. Sie hatte schon vieles erlebt und war normalerweise nicht mehr darüber überrascht, wozu Menschen imstande waren, aber irgendetwas an dem bärtigen Mann vor ihr irritierte sie zutiefst. Er fand ein Auto mit einer verkohlten Frauenleiche und dachte als Erstes daran, sich zu bedienen. Zu plündern. Genau das hatte Harald Olofsson getan. Zwar nur in geringem Umfang, aber es war dennoch Plünderung. Ursula fiel kein Grund ein, der es entschuldigt hätte, sich auf solche Weise am Unglück anderer zu bereichern. Kein einziger.
«Was lag denn darin?», fragte Torkel. Falls er dieselben Gefühle für Olofsson hegte, konnte er es gut verbergen.
«Zwei Rucksäcke.»
«Mehr nicht?»
«Nein.»
«Kein Zelt?», warf Ursula ein.
«Nein.»
Torkel verstand, worauf sie hinauswollte. Sie wussten noch immer nicht, wo die vier anderen Toten im Fjäll übernachtet hatten.
«Diese Rucksäcke», fuhr Torkel fort, «sind jetzt ein bisschen verbrannt.»
«Ja. Es tut mir leid.»
Harald sah die beiden Polizisten an, und sein Blick wirkte genauso aufrichtig wie seine Stimme. Hätte er nicht den Unfallwagen geplündert, dann hätte Ursula beinahe Mitleid mit ihm gehabt.
«Hatten die Rucksäcke Etiketten mit Adressen oder Ähnliches, als Sie sie fanden?»
«Ich weiß nicht.»
«Denken Sie nach. Oder irgendwelche Aufnäher oder Flaggen oder etwas anderes, das Auskunft über die Besitzer geben könnte?»
«Ich weiß nicht.»
Ursula beugte sich vor und legte ihre Unterarme auf den Tisch. Sie wartete, bis Harald sie ansah. Das dauerte einige Sekunden.
«Es ist so», erklärte sie, als sie endlich Augenkontakt hatten. «Alle Indizien deuten darauf hin, dass der Brand im Auto erst nach dem Unfall ausbrach. Dass jemand es bewusst angezündet hat, womöglich um Beweise zu vernichten», fuhr sie fort.
Sie sah, wie Harald zusammenzuckte, als die Tragweite ihrer Worte bei ihm ankam.
«Oder vielleicht auch, um die Frau, die am Steuer saß, zum Schweigen zu bringen», fuhr Ursula fort. «Wenn wir davon ausgehen, dass sie noch lebte, als der Brand ausbrach …»
Sie beendete den Satz nicht, sondern ließ das Szenario und dessen Konsequenzen auf Harald wirken. Offenbar funktionierte es. Er wurde eine Spur blasser, und seine Hand zitterte leicht, als er das Glas erneut zum Mund führte. Was Ursula zuletzt gesagt hatte, war allerdings reine Spekulation. Und vermutlich hatte die Frau auch nicht mehr gelebt, als der Brand ausbrach, denn im rechtsmedizinischen Gutachten stand nichts darüber, dass sie Rauch in den Lungen hatte. Aber das konnte Harald Olofsson nicht wissen.
«Wenn sie noch lebte, als es zu brennen begann, sprechen wir von Mord», schloss Ursula und fixierte Harald.
«Damit habe ich nichts zu tun!» Harald wandte sich instinktiv an Torkel.
Obwohl sie vorher nichts in dieser Richtung abgesprochen hatten, hatten Ursula und Torkel intuitiv die Böser-Bulle-/Guter-Bulle-Rollen Harald gegenüber angenommen. Und Ursula schien fest entschlossen, an dieser Taktik festzuhalten.
«Vielleicht saß sie bewusstlos da, und als Sie ihre Sachen aus dem Auto holen wollten, wachte sie auf und … was weiß ich, vielleicht sind Sie in Panik geraten?»
«Nein!»
«Haben Sie noch etwas anderes aus dem Auto genommen?», fragte Torkel besonnen. Harald war bisher kooperativ gewesen, aber jetzt wurde er zudem panisch. Das musste man ausnutzen.
«Nein, nichts. Ich schwöre. Die Handtasche und zwei Rucksäcke. Dann hab ich die Polizei gerufen.»
«Wir werden Ihr ganzes Haus auf den Kopf stellen, das verspreche ich, wenn Sie also jetzt lügen …»
Torkel verstummte, aber Harald verstand auch so, was er meinte. Genau wie er begriff, dass es vorbei war. Alles war vorbei. Sie würden die Kammer finden. Diesmal würde er nicht davonkommen, aber er wollte trotzdem nicht in einen Mordfall verwickelt werden, mit dem er nichts zu tun hatte.
«Ich lüge nicht!» Sein Blick wanderte zwischen ihnen hin und her, verharrte dann jedoch bei Ursula. Sie schien diejenige zu sein, bei der er die meiste Überzeugungsarbeit leisten musste. «Ich habe nichts anderes genommen! Die Handtasche und zwei Rucksäcke. Und das Auto war schon abgebrannt, als ich dort
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