Die toten Frauen von Juárez
jeder Zelle drängten sich drei, manchmal vier Männer. Pritschen gab es keine; die Männer hatten Schlafsäcke auf dem nackten Fußboden liegen.
»He! He, Gringo, geh dir einen abwichsen!«, rief jemand; die Männer lachten.
Eine Stahltür vor ihnen war grün gestrichen, doch in tiefen Kratzern auf der Oberfläche zeigte sich Rost. Der Aufseher befahl Kelly, sich mit der Stirn gegen die Tür zu lehnen, während sie warteten, bis die Wache auf der anderen Seite aufgeschlossen hatte.
Auch außerhalb des Zellentrakts änderte sich nichts an den geweißelten Hohlblocksteinen. Anstelle verriegelter Türen standen Stahlportale mit Gucklöchern Wache. Sie trugen mit Bleistift geschriebene Nummern. Kelly sah insgesamt vier, bis sie zu der mit der Aufschrift 2 kamen.
Kelly hielt den Atem an, als der Aufseher die Tür öffnete, doch auf der anderen Seite lag nur ein Raum, der seiner Zelle ähnlich sah. Etagenbett, Toilette und Waschbecken fehlten, stattdessen befanden sich darin ein hässlicher, am Boden festgeschraubter Holztisch und zwei gleichermaßen gesicherte, einander gegenüber aufgestellte Stühle. An beiden Enden des Tisches war ein kurzes Metallgeländer angebracht. Der Aufseher fesselte Kellys linkes Handgelenk mit der Handschelle an eines davon.
»Hinsetzen«, befahl Sevilla. Kelly setzte sich.
Das Deckenlicht verbannte jeden Schatten aus dem Zimmer. Es war ein quadratischer Raum. Kelly sah Furchen in Sevillas Gesicht, die ihm vorher nie aufgefallen waren. Und als er seine eigenen Hände betrachtete, erkannte er sie kaum wieder.
»Gracias«,
sagte Sevilla zu dem Aufseher. Er wartete, bis der Mann die Tür geschlossen und verriegelt hatte. Dann waren sie allein, abgesehen von einer Videokamera hoch oben in einer Ecke, ein Schuhkarton aus grauem Metall mit einem schwarzen Auge.
Sevilla folgte Kellys Blick. Er nickte unmerklich und nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz. Zwischen sie legte er einen zerknitterten Schnellhefter. Sevilla verschränkte die Hände darauf. Er sagte nichts.
»Wer beobachtet uns?«, fragte Kelly schließlich.
»Ist das wichtig?«
»Vermutlich nicht.«
»Sie hatten Ihre Chance, allein mit mir zu reden, Kelly«, sagte Sevilla. »Genutzt haben Sie sie nicht. Jetzt werden wir immer Zuhörer haben, wenn wir uns unterhalten.«
»Städtische Polizisten?«
»Es ist kompliziert«, sagte Sevilla. »Die Städtischen haben die Festnahme durchgeführt, aber die Bundespolizei leitet die Ermittlungen. Es gibt eine Sonderkommission für solche Fälle.«
»Eine Sonderkommission?«
»Ja. Und einen Sonderankläger. Das alles ist sehr ernst, Kelly. Ihnen scheint nicht klar zu sein, wie ernst.«
»Es ist mir klar.«
»Wenn Sie das sagen.«
»Gehören Sie zu der Sonderkommission?«
Sevilla schüttelte den Kopf. »Nein. Ich gehöre zum Drogendezernat. Ich bin aus reiner Höflichkeit hier. Weil ich darum gebeten habe.«
Kelly fand, mit einer Hand am Tisch festgekettet, keine bequeme Sitzhaltung. Er stützte sich auf den gefesselten Arm, doch der Winkel stimmte nicht, seine Schulter tat weh. Wenn er sich aufrichtete, wurde es auch nicht besser. »Warum haben Sie darum gebeten?«
»Ich habe meine Gründe. Und Sie sollten wissen, dass ich auch darum gebeten habe, bei der Festnahme dabei zu sein«, fuhr Sevilla fort. »Ich wollte gewährleisten, dass Sie ohne Probleme verhaftet werden. Bei so was können schon mal Unfälle passieren.«
»Ich denke, es sind welche passiert«, antwortete Kelly. Er berührte sein Gesicht. Als er mit der Zunge über seine Zähne strich, spürte er, wie einige davon unter dem sanften Druck nachgaben.
»Nein. Sie leben noch.«
»Warum sollten die mich töten?«
Sevilla schlug den Hefter auf und hielt ihn hoch. Kelly sah das Foto darin und würgte. Er drehte hastig den Kopf zur Seite, als ihm Magensäure in den Mund schoss. Kelly spuckte aus und kniff die Augen fest zusammen, doch das Bild ging ihm nicht aus dem Kopf. Ihm wurde wieder schlecht.
»Nehmen Sie das weg!«
»Es ist nicht das Einzige, Kelly.«
»Ich will das nicht sehen!« Sein Magen schien sich zu drehen. Er umklammerte das Gestell am Tisch mit einer, sein Bein mit der anderen Hand. Die Augen schlug er nicht auf. »Nehmen Sie das weg!«
Kelly sah erst wieder hin, als er hörte, wie Sevilla den Hefter zuklappte. Sevilla faltete wieder die Hände darüber, und Kelly erschauderte. Wieder einmal wirkte Sevillas Miene finster und unergründlich, die Lider schwer. Er schien kaum zu atmen.
»Keine
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