Die toten Frauen von Juárez
Männer auf Laufbändern joggen; die Metall- und Glaskonstruktion des Eingangs im Erdgeschoss machte einen einladenden Eindruck. Weiß gestrichene Wände mit Aufschriften wie BOXEO – SALUD – CALISTENIA – NAUTILUS reflektierten grell das Sonnenlicht.
Enrique sah die Silhouetten zweier Leibwächter von Ortíz hinter den dunkel getönten Scheiben der Fahrerkabine. Der Motor lief, aus dem Auspuff tropfte Kondenswasser, da die Klimaanlage eingeschaltet war. Enrique schwitzte bei heruntergekurbelten Scheiben. Hitzeflimmern stieg unablässig vom Asphalt auf. Er parkte in einer Halteverbotszone und beobachtete das Auto.
Er kam sich ein bisschen albern vor. In seiner ganzen Zeit bei der Polizei hatte Enrique noch nie eine Observierung durchgeführt oder einen Verdächtigen auf der Straße verfolgt. Er war von der Akademie direkt zur Verwaltung gekommen, und auch wenn sie ihm einen Dienstausweis und eine Pistole gegeben hatten, herrschte eine enorme Kluft zwischen seiner Tätigkeit und der der anderen Polizisten.
Garcia achtete stets darauf, dass er ihm das unter die Nase rieb. »Komm nicht auf die Idee, du wärst ein richtiger Polizist«, pflegte er zu sagen. »Richtige Polizisten schwitzen. Richtige Polizisten haben Blut an den Händen. Wenn du einmal Blasen an den Füßen hast, weil du dir den ganzen Tag die Hacken ablaufen musstest, und deine Stimme zu ausgelaugt ist, deiner Frau gute Nacht zu sagen, dann weißt du, was ich meine.«
Enrique hatte weder eine Frau noch Blasen an den Füßen. Er blieb lange Zeit sitzen und beobachtete, obwohl nichts passierte. Die Augen fielen ihm zu.
Ortíz kam aus dem Gebäude. Enrique hatte den Mann noch nie gesehen, doch es bestand kein Zweifel: ein Mann in Blazer und Stoffhose, der neben einem kräftigen Leibwächter in einem schwarzen Netzhemd zwergenhaft wirkte. Sie gingen zu dem Pick-up, wo der Leibwächter Ortíz die Tür aufhielt. Er nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Der Leibwächter ging nach hinten.
Sie fuhren los, Enrique folgte ihnen. Das Handy lag neben ihm auf dem Beifahrersitz, und er überlegte einen Moment, ob er Sevilla anrufen sollte, doch in Wahrheit hatte er nichts zu berichten. »Ich beschatte ihn«, hätte er sagen können, mehr aber auch nicht. Es wäre ihm nicht möglich gewesen, den Mann festzunehmen; Hahnenkämpfe zu veranstalten war ebenso wenig illegal wie Wetten darauf. Fragte man die Boxer, war Carlos Ortíz ein Heiliger. Mit dem Geld, das die Manager der Kampfarenen verdienten, in deren Ringen sich seine Boxer die Ehre gaben, erkaufte er sich weitere Lobhudeleien.
Der Lastwagen fuhr nach Norden in die Touristenviertel und kam am Hotel Villa Manport vorbei. Plötzlich wusste Enrique, wohin sie fuhren, und als der Lastwagen vor der korallenfarben verklinkerten Fassade des El Herradero Soto zum Stillstand kam, sah er seine Vermutung bestätigt.
Jeder in Juárez kannte dieses Restaurant: das preiswerte, gute Essen, die familiäre Atmosphäre. Die Kellner brachten Schweineschwarten und würzige rote Salsa als Vorspeise an die Tische, und ihr
pico de gallo
war legendär. Um die Mittagszeit bildete sich eine Schlange unter dem Schild. Die Leute unterhielten sich wie alte Freunde, bis ein Tisch frei wurde. Ortíz stieg aus dem Auto aus, lächelte breit, schüttelte Hände und betrat das Restaurant, ohne zu warten.
Enrique konnte unmöglich in der Nähe parken. Er fuhr einmal um den Häuserblock und fand einen Parkplatz, auf dem noch Plätze frei waren. Er beeilte sich, obwohl kein Grund zur Eile bestand; ein Mittagessen im El Herradero brachte man nicht so schnell hinter sich.
Der Pick-up wartete am Bordstein, genau wie vor dem Boxclub. Enrique betrachtete die Schlange und überlegte, ob er sich anstellen sollte und was er machen wollte, wenn er erst einmal im Inneren wäre. Aß ein Polizist im selben Restaurant zu Mittag wie ein Verdächtiger? Sollte er sich einfach in die Schlange der wartenden Gäste einreihen und durch die Fenster sehen? Das alles hatte man ihm nicht beigebracht, die Erfahrung hatte es ihn nicht gelehrt. Er verstand etwas von Aktenablage, und diese Erkenntnis versetzt ihm einen Stich.
Er stand am Ende der Schlange, als er Captain Garcia entdeckte. DerMann überquerte vor dem schwarzen Pick-up die Straße. Er schlug mit der Hand auf die Motorhaube des Wagens und machte eine Geste zu dem Fahrer, als würde er schießen. Enrique sah nicht, ob der Fahrer sie erwiderte.
Er hatte auf dem Bürgersteig keine Möglichkeit, sich zu
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