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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
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heraus.«
    »Wo finde ich Sie?«
    »Daheim.«

VIERZEHN
    Er war wütend auf sich, weil er getrunken, und noch wütender, weil er deswegen gelogen hatte. Als Enrique ihn zu Hause besucht hatte, konnte Sevilla wenigstens ehrlich zugeben, dass er zu viel getrunken hatte. Dass er das überhaupt tat, war schlimm genug. Dass er es auch noch verheimlichte, war dagegen unverzeihlich. Er spürte Lilianas Blicke auf sich.
    Er fuhr unaufmerksam, als er den Heimweg antrat, die entgegenkommenden Scheinwerfer trieben ihm Tränen in die Augen. Er war froh, als er endlich seine sichere Straße erreichte, und machte den Motor mit einem stummen Dankgebet der Erleichterung aus.
    Da er sich nicht bereit fühlte, hineinzugehen und das leere Haus zu ertragen, blieb er sitzen und betrachtete über das Armaturenbrett hinweg die stille Straße. Die Häuser hier schienen wie unter einer Glasglocke, vollkommen unberührt von den Schießereien und Morden im Krieg der Sinaloa- und Golf-Kartelle zu sein. Andere, ältere Plagen mussten sie über sich ergehen lassen, doch die toten Frauen von Juárez waren unsichtbar. Mujeres Sin Voces wollte daran etwas ändern, doch die Frauen in Schwarz konnten nicht überall sein, stumm ihre Mahnwache halten und die
feminicidios
wieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit rücken.
    Sevilla merkte gar nicht, wie er eindöste; er hatte die Augen noch offen. Als jemand laut an die Fensterscheibe der Fahrerseite klopfte, zuckte er heftig zusammen und hätte um ein Haar einen Fluch ausgestoßen. Anfangs erkannte er Adela de la Garza nicht, die im Schatten auf dem Bürgersteig zwischen Telefonmast und Auto stand. Sie trug ein Kapuzenshirt, das ihr Gesicht verbarg.
    Zuerst wollte er die Tür öffnen, aber die junge Frau gab ihm zu verstehen, dass er es sein lassen sollte. Sevilla kurbelte das Fenster herunter. »Señora«, sagte er, »was machen Sie denn hier?«
    Adela sah in beide Richtungen die Straße hinab. Es war niemand da, immer noch bewegte sich nichts. »Ich bringe eine Nachricht von Ella Arellano. Sie wollten mit ihr reden, ja?«
    »
Sí.
Wo ist sie? Ihr Haus …«
    Die Frau drückte Sevilla durch das Fenster einen zusammengefalteten Zettel in die Hand. »Besuchen Sie am Sonntag diese Kirche. Die erste Messe. Jemand kennt Sie. Diese Frau bringt Sie zu Ella.«
    »Warum versteckt sie sich? War es Jiminéz? Für wen arbeitet er?«
    »Sie erzählt Ihnen alles«, antwortete Adela. »Ich muss gehen.«
    »Warten Sie«, sagte Sevilla. Er stieg aus, doch Adela befand sich bereits außer Hörweite und entfernte sich zusehends. Sie bog um die Ecke; als Sevilla dort ankam, war sie längst fort.
    Im Licht einer Laterne las Sevilla den Namen der Kirche. Er kannte sie nicht. Abermals blickte er in die Richtung, in die Adela verschwunden war, doch die junge Frau kam nicht zurück. Widerwillig wandte er sich von der Straßenecke ab und ging nach Hause. Es tat gut, als er das Licht einschaltete und das unveränderte Wohnzimmer in goldenen Glanz hüllte. Zum ersten Mal wirkte die Straße vor seiner Haustür abweisend.
    Er las er den Namen der Kirche noch einmal und versuchte krampfhaft, ihr Bild vor seinem geistigen Auge heraufzubeschwören. Nichts. Er musste jemanden danach fragen, vielleicht Enrique, sofern der nicht zu sehr mit Ortíz beschäftigt war. Da Sevilla nicht wusste, was er mit dem Zettel anfangen sollte, befestigte er ihn mit einem Magneten an der Kühlschranktür.
    Er duschte, weil er immer noch den Staub vom Parkplatz der
palenque
an sich hatte. Er versuchte, sich so gut es ging an das Gesicht von Adela de la Garza zu erinnern, die Spiegelungen von Licht in ihren Augen, das Kapuzenshirt, das sie straff wie einen Schutzschild um sich gezogen hatte. Natürlich hatte er ihre Angst gesehen, aber Angst, die eine Form und einen Namen hatte, kein namenloses Entsetzen.
    Señora Quintero beantwortete seine telefonische Anfrage nach Jiminéz nicht. Sevilla überlegte, ob er noch einmal anrufen sollte, doch der Abend schien ihm zu weit fortgeschritten. Er verzichtete auf die Nachtwache an Anas Bett, neben Ofelias Wiege, und ging ohne Umwege in sein Zimmer. Morgen wollte er Kelly im Krankenhaus besuchen und danach noch einmal Quintero anrufen.
    Trotz des langen, alkoholseligen Nickerchens am Nachmittag schlief Sevilla problemlos ein. Er träumte vom Boxen und von Männern ohne Gesichter, die ihre Hähne zu den Kämpfen brachten. Einer trug einen Anzug, woran Sevilla erkannte, dass es sich um Ortíz handeln musste. Der andere

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