Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
Grünschnabel, der immer seine Waffe vergaß. Bernini hatte ihn gewollt wegen der Leidenschaft, die er an den Tag legte, noch bevor er wusste, wessen Sohn er war. Er hatte Robertos Vater nie kennengelernt, wusste aber natürlich, dass er ein hervorragender Polizist gewesen und unter welchen Umständen er gestorben war.
Berninis außergewöhnliche investigative Fähigkeiten und sein unmöglicher Charakter ließen ihn beinahe als eine Art skorbutkranken Schamanen durchgehen. Die Spezialeinheit war von einer geheimnisvollen Aura umgeben und galt wahlweise, je nach Standpunkt, als Nukleus der besten Kräfte oder als Abfallgrube der Polizei. Die Büros hatten sich in Castel Giubileo befunden, in der nördlichen Peripherie Roms. Reihen kleiner weißer Häuschen, die eher an ein Dorf denken ließen als an die Ausläufer einer Metropole. Formal gehörte sie zur Spezialeinheit gegen Gewaltverbrechen, allerdings erschien sie nicht in den Organigrammen. Experten für Öffentlichkeitsarbeit waren der Meinung gewesen, dass es dem Ruf der Polizei abträglich wäre, wenn bekannt würde, dass es Fälle gab, die nicht auf den üblichen Wegen gelöst wurden und bei denen man eine Spezialeinheit hinzuziehen musste, die von einer Person ins Leben gerufen und geleitet wurde, die sich außerhalb der üblichen Schemata bewegte.
Die Spezialeinheit wurde zu den schwierigsten Fällen hinzugezogen, jenen, die kurz davor standen, als ungelöst zu den Akten gelegt zu werden. Der Questore verfolgte dabei einen streng analytischen Ansatz. Eine alte Methode, den führenden Köpfen der Kriminaltechnik zufolge. Die einzig mögliche, seiner Meinung nach. »Der Mensch muss im Mittelpunkt der Ermittlungen stehen, nicht die Wissenschaft.« Eines seiner Theoreme. Mit einem Zusatz: »Verbrechen werden von Menschen begangen. Man muss in ihren Kopf eindringen, um zu verstehen, was geschehen ist und warum. Es gibt keinen Wissenschaftler, der das könnte.«
Es war eine hektische Zeit gewesen, eine Arbeit, die ihn voll und ganz in Anspruch nahm. Vielleicht hatte sich sein Organismus deshalb dem Tanz für zwölf Monate verweigert, obwohl Roberto keine Medikamente mehr nahm.
Allerdings wurde im Juni 1986 die Spezialeinheit hinzugezogen, um einen Mord an zwei Nordafrikanern aufzuklären, deren Leichen in Rom am Bahnhof Termini aufgefunden worden waren. Ein junger Tunesier war verhaftet worden, aufgrund von Indizien und dem wachsenden Misstrauen gegenüber allen, die von der anderen Seite des Mittelmeers herüberkamen. Einem fähigen Anwalt war es gelungen zu zeigen, dass die Polizei mit der Anklage ein überaus wackeliges Kartenhaus konstruiert hatte, mit Rückendeckung einer auf Publicity versessenen Staatsanwaltschaft. Vor Gericht hatte der junge Mann die Beamten beschuldigt, ihn Gewalt und Einschüchterungen ausgesetzt zu haben, und der Prozess war in jeder Hinsicht zu einer Anklage gegen die Ordnungskräfte geworden. Ein Bumerang mit möglicherweise verheerenden Auswirkungen.
Bernini hatte zunächst einmal einen Wutanfall bekommen, indem er Justizbehörden und Kollegen der Unfähigkeit bezichtigte. Dann hatte er eingewilligt zu versuchen, den Fall neu aufzurollen, wobei er allerdings eine außergewöhnliche Bedingung stellte: Der Bahnhof Termini sollte komplett geschlossen werden, um es der Spezialeinheit zu erlauben, den Tatort in Ruhe in Augenschein zu nehmen. Er bekam, was er wollte.
Während die Spezialeinheit minutiös Gleis elf des Bahnhofs unter die Lupe nahm, an dessen Bahnsteig die Leichen der beiden jungen Männer gefunden worden waren, hatte Roberto sich auf die Abfolge der Eisenbahnschwellen der Gleise konzentriert. Eine nach der anderen hatte er mit dem Blick abgetastet bis ganz nach hinten, wo sie sich in einem dunstig weißen Horizont verloren. Er war dermaßen konzentriert, dass er, als er anfing, den Geruch der verrotteten Blumen wahrzunehmen, sich umgeschaut hatte, um zu sehen, woher er kam. Die Wahrheit hatte er zu spät erfasst. Er wusste, dass er, wenn er vor allen anderen tanzte, einen Job verlieren würde, für den er lebte. Er würde erneut von Psychiater zu Psychiater, von Arzt zu Arzt geschleift werden. Und doch hatte er nichts tun können, um den Tanz zu verhindern. Diese rätselhafte Energie war wie eine Implosion.
Ich hatte gespürt, wie die Atemnot immer stärker wurde. Angst. Die Eisenbahnschwellen folgten immer schneller eine auf die andere. Ich rannte. Meine Haut war olivfarben, wie die des Jungen, der neben mir lief.
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