Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
Sein Gesicht war verzerrt vor Anstrengung und Schrecken. Hinter uns waren viele. Immer näher.
Eine Klinge war mir in den Rücken gefahren. Ich hatte kaum noch Zeit zu schreien. Dann war ich auf dem Boden zusammengebrochen. Sie hatten mich umgedreht. Weiße Hände. Weiß, wie die Gesichter dieser Monster, beinahe noch Kinder, mit rasierten Schädeln, die angefangen hatten, mich mit Fußtritten zu malträtieren. Ich hatte gespürt, wie etwas zerbrach, in mir drin. Ich war sicher, dass ich durch die Tritte sterben würde, durch die Blutungen, vielleicht auch durch das Entsetzen. Ich hatte an den Sand gedacht. An die glühende Sonne. Ich hatte schreien wollen, dass Allah groß ist. Aber der Chef der Bande, einer mit stecknadelkleinen Pupillen und zwei eintätowierten Blitzen auf dem Schädel, hatte noch ein Messer gezogen. Er hatte mir die Kehle durchgeschnitten. Ich hatte mein eigenes Blut aus dem Schnitt und aus dem Mund hervorquellen gesehen.
Das letzte Bild dieses Tanzes. Roberto hatte sich auf dem Bahnsteig wiedergefunden, ausgestreckt liegend, den Blick auf die blaue Anzeigetafel gerichtet. Nur Bernini war an seiner Seite: »Was ist los?«, hatte er ihn gefragt.
Er hatte versucht, das Zittern zu stoppen und wieder aufzustehen. »Die Tunesier haben nichts damit zu tun. Es waren Italiener. Ein Hinterhalt, ein geplanter Mord«, hatte er geflüstert.
Bernini hatte ihm bis zu einer Bank geholfen. Dann hatte er sich eine Lucky Strike angezündet. »Meinst du nicht, du solltest mir was erzählen? Du redest hier daher wie diese Taugenichtse, die sich als Medium bezeichnen und dann doch die Leiche im falschen See vermuten.«
Roberto war zu erschöpft gewesen, um Ausreden zu erfinden. Er hatte alles erzählt. Nichts Übernatürliches. Es war etwas in ihm, etwas Reales. Er lebte für ein paar Sekunden das Leben anderer, Lebender oder Toter. Ohne beeinflussen zu können, was er sah.
»Ich bin nicht krank«, hatte er zum Schluss entschieden gesagt. »Oder zumindest habe ich nicht die Krankheit, von der alle glauben, dass ich sie hätte. Ich bin kein Epileptiker. Ich habe es Ihnen nie gesagt, weil ich mit dieser … mit dieser Sache kein Polizist sein kann.« Hätte er jetzt in Berninis Blick irgendeine Spur von Mitleid gesehen, wäre er aufgestanden und hätte ihm den Dienstausweis ausgehändigt. Er fand nichts in der Art. Eher Verständnis.
Der Questore hatte den Arm gehoben, als wollte er eine Mücke verscheuchen. »Erzählen Sie keinen Scheiß, Serra. Ich will nur Leute in meinem Team haben, die in der Lage sind, zu verstehen, was die Opfer durchmachen. Was sie denken. Wie oft haben Sie mich das schon sagen gehört? Und Sie durchleben es sogar. Solange ich hier den Befehl habe, gehören Sie zur Truppe. Ende der Diskussion.«
Roberto, ungläubig, hatte beschlossen, sich noch weiter vorzuwagen. »Manchmal spüre ich auch, was die Mörder erleben. Es ist schrecklich. Es tut hier weh.« Er hatte mit der linken Hand über die Gegend zwischen Herz und Magen gestrichen, alle Finger ausgestreckt, um die größtmögliche Fläche abzudecken.
Bernini hatte seine Zigarette an der Bank ausgedrückt, dann hatte er den Stummel ordentlich im Mülleimer entsorgt. »Das glaube ich wohl. Aber diese hässliche Geschichte macht dich zu etwas Besonderem, ganz egal, woher sie kommt. Du darfst diese Gabe nicht verschwenden, sondern musst dafür sorgen, dass etwas Gutes daraus entstehen kann. Ich geh und ruf die anderen zurück. Die waren ziemlich verschreckt: Du warst wie eine Maschine. Deinem Gesicht nach hätte man meinen können, du würdest gerade ohne Betäubung operiert. Wir sagen, dass du einen Hitzschlag erlitten hast, ist doch klar, bei der Schwüle.«
»Werden sie das glauben?«
Der Questore war schallend in ein raues Lachen ausgebrochen. »Die von der Spezialeinheit glauben, was ich sage.«
Die Ermittlungen über die Toten vom Bahnhof Termini hatten im Umfeld der rechtsextremen Neonazigruppen zur Verhaftung einiger junger Männer geführt, die in beunruhigend enger Beziehung, entweder durch Verwandtschaft oder Freundschaft, mit den Beamten gestanden hatten, die den Verdächtigen verhaftet und geschlagen hatten. Von da an wurde Roberto immer für die heikelsten Fälle ausgewählt.
Über die Zusammenarbeit hinaus lebte Roberto quasi in einer Symbiose mit Bernini. Der energische Questore und der stille Agente hatten eine natürliche, tief reichende Bindung entwickelt.
Ende 1990 brach die Beziehung zu Bernini unvermittelt ab.
Weitere Kostenlose Bücher