Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
die Hände vor den Mund gelegt. Manzini klopft an, ein, zwei, dreimal, ohne eine Antwort zu bekommen. Er tritt dennoch ein.
»Ich habe die Haustür knallen gehört. Soll ich Bondi verhaften?«
»Zu spät.« Er schafft es kaum, die paar Worte herauszubringen, um das Wortgefecht zu schildern. Die Welle des Zorns ist abgeebbt und hat ihn erschöpft zurückgelassen.
Manzini schüttelt den Kopf. »Dieser Typ ist ekelhaft. Und dennoch, er kommt aus einer anständigen Familie«, sagt er mit einem Blick zur Tür, als wäre der Journalist noch da.
»Schwer zu glauben.«
»Sein Großvater war ein Freund meines Vaters. Sie waren zusammen bei den Partisanen. Und beide sind einem hässlichen Verbrechen zum Opfer gefallen«, erklärt er. Sie verlieren sich im Trost des gemeinschaftlichen Schweigens.
15
A uf dem Bett ausgestreckt in dem kleinen Zimmer unter dem Dach des Kommissariats, umklammert Roberto das Protokoll von Berto Guerzonis Aussage, als könnte man es ihm aus den Händen reißen. Bis jetzt ist das Einzige, was er mit Sicherheit sagen kann, dass drei Menschen ermordet wurden.
Wieder und wieder hat er die sorgsam von Manzini zusammengestellten Papiere gelesen, bis die normalerweise willkommene Gesellschafterin, die Einsamkeit, bedrückend geworden war. Um sie zu mildern, hat er Le nuvole von Fabrizio De André aus den mehr als sechstausend Platten auf CD (wenige), Kassetten (zahlreiche) und Vinylplatten (unzählige) ausgewählt, die auf maßgefertigten Regalen die Wände bedecken. Die Sammlung umfasst die gesamte Produktion italienischer Liedermacher seit den Vierzigerjahren. Keine Singles oder Anthologien, nur Alben, die man rigoros von vorne bis hinten zu hören hat. Wenn der Autor sich für eine bestimmte Reihenfolge entschieden hat, warum sollte man sie ändern? In der Ecke eine hypermoderne Stereoanlage, die von jedem Tonträger eine akustisch perfekte Wiedergabe garantiert.
Roberto hat den Eindruck, als habe er vier Jahre lang in einer Blase gelebt, die jetzt jemand zum Platzen gebracht hat. Erst die drei Toten, dann Alice. Und Bernini, der von ihm verlangt, sich an die Abmachung zu halten.
Wir sind alle Flüchtlinge, die sich wegen eines Massakers erneut getroffen haben. Der Gedanke lässt ihn schaudern. Das Mädchen hat den Mord an seinen Eltern nicht überlebt, im Gegensatz zu mir. Einen Moment lang bleibt er stehen, den Blick zur Decke gerichtet, als wäre dort die ockerfarbene Scheibe der Sonne zu sehen, die über der Autobahn vor dem Meer aufging. Wer hat mehr Glück gehabt? Ich oder sie?
Er denkt noch einmal an Sernagiottos Show, die er zusammen mit Manzini am Fernseher im Wohnzimmer im ersten Stock verfolgt hat. Der Vizequestore schien vor den Mikrofonen in seinem Element zu sein. Zu sehr. Ohne es abgesprochen zu haben, hatte er einen Appell an die Bevölkerung gerichtet, dass alle vermissten Personen gemeldet werden sollten.
Roberto hatte ihm mit einem Glas Lambrusco zugeprostet: »Wir haben gerade sämtliche Spinner Italiens auf den Plan gerufen.« Manzini hatte ebenfalls das Glas erhoben, dann war er aufgestanden und hinausgegangen, um mit der Flasche Nusslikör und der Schachtel mit den Dominosteinen zurückzukehren.
Roberto hätte nur zu gern eine lange, schweigsame Partie gespielt, um sich der Illusion von Normalität hinzugeben. Doch nichts war mehr normal. »Geh nach Hause. Lass dich ein bisschen von Teresa und den Mädchen umsorgen.« Manzini, ebenfalls vollkommen erschöpft, hatte nachgegeben und sich in den dichten Nebel hinausgewagt, um nachts um zehn noch zum Monte San Giacomo zu fahren.
Ich bin froh, dass ich ihn an meiner Seite habe, denkt Roberto, bevor er in den Schlaf hinüberdämmert. Alles, was ich versucht habe, hinter mir zu lassen, hat mich aufgespürt und wieder eingeholt. Und ausgerechnet da, wo ich glaubte, eine sichere Zuflucht gefunden zu haben.
Der letzte Gedanke, bevor er sich in wenige Stunden eines unruhigen Schlafs verliert.
16
A lice wälzt sich im Bett hin und her. Normalerweise schläft sie schon, wenn ihr Kopf das Kissen berührt, aber in dieser Nacht gelingt ihr das nicht, obwohl sie eine lange Nachtschicht hinter sich hat, die in der Entdeckung der drei Mordopfer gipfelte.
Das Nachthemd rutscht an den Beinen hoch, es kitzelt sie. Das Zimmer ist zu warm. Zu laut. Zu groß. Nicht einmal als Kind hat sie sich in diesem weitläufigen Haus an der Strada Maggiore wohlgefühlt, der Kathedrale des Erfolgs ihres Vaters, Avvocato Ruggero Maria Capelveneri. Sie
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