Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
die Lippen.
»Lass mich ausreden. Es ist schon schwer genug, überhaupt darüber zu sprechen. Vorhin hast du erzählt, was dir wichtig ist, jetzt bin ich dran. An Neujahr habe ich dich dazu aufgefordert, den Fall nicht abzugeben, weil ich glaube, dass diese Kraft mindestens genauso zu dir gehört, wie du ihr gehörst.« Sie senkt den Blick. »Auch wenn sie mir Angst macht. Verdammt viel Angst.«
Sie trinkt einen großen Schluck, ihre Wangen sind leicht gerötet. »Ende des Sermons. Zurück zu uns. Gelten dieselben Regeln wie in Rom? Willst du, dass ich dir ein paar geniale Einfälle liefere, die es dir erlauben, einen Fall zu lösen, den du allein niemals lösen könntest?«
Roberto kann nicht anders, als zu nicken.
»Berto Guerzoni war alt genug, um am Zweiten Weltkrieg teilgenommen zu haben«, fährt sie fort. »Hat er was mit dem Massaker am Prà grand zu tun gehabt? Vielleicht kannte er den Henker?«
Roberto ist ratlos. »Ich weiß nichts über ihn, abgesehen von dem bisschen, das mir Don Gaspero erzählt hat. In Aldrovandis Buch wird er nicht erwähnt. Ich wüsste nicht, wen …«
Eine zittrige Stimme unterbricht ihn. »Ich sag’s Ihnen, comisàri .«
Sie drehen sich gleichzeitig zu der kleinen Frau um, die eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit in der Hand hält. Sie ist bis auf einen Schritt an sie herangetreten, ohne dass sie es gemerkt hätten.
»Ich muss sie um Verzeihung bitten«, sagt Argìa, während sie die leeren Schüsseln vom Tisch abräumt. Sie bemüht sich, Italienisch zu sprechen, es kommt aber nur eine seltsame Mischung mit dem Dialekt heraus. »Ich konnte nicht anders, als mithören. Jetzt kann ich Ihnen nichts sagen, Alver beobachtet mich. Ich lasse Ihnen den Grappa da. Ich komme später noch mal wieder.«
Sie stellt die ganze Flasche auf den Tisch und zwei übergroße Gläser dazu. Der Alkoholgehalt des hausgemachten Destillats übersteigt die vierzig Prozent sicher bei Weitem.
»Nett, das Ömchen«, sagt Alice, während sie die Gläser füllt und für Robertos Mahnungen nur ein Achselzucken übrig hat. Vom Alkohol beflügelt wird das Gespräch leichter und flüssiger, während das Lokal sich allmählich leert. Obwohl Roberto sich bemüht, klar zu bleiben, verliert er sich in einer gleichsam wattierten Gefühlswelt, in der es nichts gibt außer Alices Duft und der Locke, mit der sie spielt. Er fühlt sich in einem tiefen Frieden. Und gleichzeitig alarmiert. Er ahnt nicht einmal, dass es Alice genauso ergeht.
Kurz nach dreiundzwanzig Uhr zieht sich Alver in die Küche zurück. Nur noch vier unermüdliche Kartenspieler bleiben übrig und Argìa, die so tut, als würde sie abräumen, und an ihren Tisch zurückkehrt und übergangslos den Faden wieder aufnimmt.
»Berto kannte den Henker. Er war einer von seinen Leuten, ein Deutscher!«
Roberto verwünscht die Alkoholwolken, die sein Hirn vernebeln.
»Guerzoni war Italiener durch und durch …«
Die Alte schüttelt den Kopf. » Comisàri, im Krieg waren alle Deutsche, die mit den Deutschen paktiert haben! Schwarzhemden, SS , Republikaner … Das war doch alles dasselbe. Die Italiener haben genauso gemordet wie die Deutschen.«
»Und Berto …«, kann er kaum flüstern.
In den Augen der Alten explodiert eine überraschende Wut. »Der war ein Kaninchen, eine halbe Portion. Aber auch er hat seinen Anteil am Prà grand gehabt, damals fünfundvierzig. Ich war da!«
»Ich verstehe nicht …«
Die Stimme der Alten wechselt zu einem anderen Tonfall. »Ich war da. Ich habe alles gesehen.«
»Mutter, vergiss nicht zu arbeiten, statt Geschichten zu erzählen«, dröhnt Alver, der mit schweren Schritten zu ihrem Tisch kommt. »Und Sie, meine Herrschaften, bequemen sich jetzt besser nach Hause. Wir müssen schließen.«
Das Gesicht des Wirts füllt Robertos Gesichtsfeld vollkommen aus. Die kräftigen Oberarmmuskeln zeichnen sich unter dem fleckigen Hemd ab. »Achten Sie nicht auf das, was sie erzählt. Sie wird allmählich alt.«
»Warum willst du nicht, dass sie mir hilft? Vielleicht, weil ich keiner von euch bin, so wie es die waren, die ermordet worden sind?« Der Alkohol legt ihm Worte auf die Zunge, die Roberto ansonsten nur gedacht hätte.
»Wenn man in Ruhe weiterleben will, ist es am besten, sich um seinen eigenen Kram zu kümmern. Ich mach das so, also machen Sie das auch so. Lassen Sie uns in Ruhe.«
In dem Augenblick versetzt Argìa ihm eine schallende Ohrfeige, obwohl sie nur halb so groß ist wie ihr Sohn. »Das
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