Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
möglich ist und was nicht. Sie lehnt sich gegen ihn. Ihre Körper passen perfekt aneinander. Jener magere nervöse nimmt den weichen und wohlgeformten auf, und dann fangen sie an, sich in dem engen Raum gemeinsam zum Rhythmus der Musik zu bewegen.
»E adesso non so neppur io cosa fare, il giorno me pento d’averti incontrato, la notte ti vengo a cercare …« 2
10
R oberto findet keinen Schlaf. Im Halbdunkel, ein wenig Licht dringt durch die offenen Vorhänge herein, genießt er den warmen Körper der Frau. Er fühlt sich befriedigt, ganz und gar. Die Ängste sind für einen Augenblick weit weg. Morgen früh ist noch Zeit genug, sich ihnen zu stellen.
Als er den Geruch der verrotteten Blumen bemerkt, ist es zu spät. Er begreift, was gleich passieren wird, und dass es brutal und schnell sein wird. Er kann nichts tun, als Alices Kopf aus seiner Armbeuge zu schieben und aufzustehen. Er wirft sich auf den Stuhl und umklammert den Schreibtisch mit beiden Armen.
Ich habe das schon mal so gemacht, es hat funktioniert! Während er tanzt, bewegt er sich normalerweise erst auf unterschiedlich langen Kreisbahnen. Anfangs sind die Kreise langsamer und kleiner, später werden sie schneller und größer, dann wieder enger. Aber wenn er es schafft, sich an etwas Festem zu halten, dann ist es nur der Geist, der tanzt, während der Körper von Zuckungen geschüttelt wird, aber ansonsten an Ort und Stelle bleibt. Er drückt die Zunge zwischen die Zähne, um keinen Ton von sich zu geben. Damit riskiert er, sich zu verletzen, aber Alice darf nicht aufwachen. Sie soll auf keinen Fall den Tanz sehen.
Die Muskeln spannen sich an, aber er leistet Widerstand, solange er noch eine Spur Herr seiner selbst ist. Mit dem letzten Funken Bewusstheit betet er, dass sie ihn nicht sieht. Dann lässt er los.
Ich bin auf der Piazza, vor dem Bronzeengel. Ich spüre Schmerz und Wut. Betrachte die eingravierten Namen. Mit langen, männlichen Fingern berühre ich die Buchstaben. Zuerst Francesco Ferri. Dann Serena und die anderen. Ich empfinde unendlichen Schmerz. Den Schmerz eines Menschen, dessen Familie man massakriert hat.
Stimmen dringen in meinen Kopf. Sie schreien die erlebte Pein heraus. Die Folter. Sie fordern Rache. Sie fordern Gerechtigkeit. Ihre Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit der Märtyrer. Sie zersprengen mein Hirn. Das Leid ist so unermesslich, dass ich anfange zu weinen. Ich wische mir die Augen trocken, aber an meinen Fingern bleibt nur Blut kleben. Aus meinem Mund dringt eine Stimme, die nicht mir gehört. Das langsame und schreckliche Psalmodieren von Tausenden von Toten.
» Es keimen die Früchte des Grolls aus dem verfaulten Schoß der Erinnerung, in herber Blüte auf euren Feldern und euren Häusern …«
In mir ist nichts mehr außer Hass. Ich muss töten.
Als das Bewusstsein wieder in seinen Blick zurückkehrt, liegt Roberto mit dem Gesicht auf dem Schreibtisch. Er bemerkt, dass er über der Zwille zusammengesunken ist. Er tastet sein Gesicht ab und spürt das Zeichen des Ypsilons auf seiner Wange. Es pulsiert dumpf.
Tränen aus Blut. Die Stimme der Toten. Ein dermaßen allumfassender Hass, dass nichts ihn aufhalten kann. Ich war der Mörder. Es kann in jeder beliebigen Nacht passiert sein, diese eingeschlossen. Vielleicht hat der Mörder sein Werk noch nicht vollendet? Er wird nicht aufhören. Wer bist du? Warum rezitierst du die Inschrift von dem Denkmal?
Ein Gedanke bricht ein, der alle anderen auslöscht. Alice. Er fährt herum, sicher, dass sie nicht mehr da sein wird, geflohen, ein weiteres Mal verstört durch den Tanz.
Er sieht ihren nackten Rücken unter der Decke hervorlugen. Die Erleichterung lässt alle Spannung von ihm abfallen, die Müdigkeit fühlt sich auf einmal unendlich schwer an. So leise wie möglich streckt er sich neben ihr in dem kleinen Bett aus, ungeachtet der schmerzenden Muskeln. Die Wärme ihres Körpers gibt ihm Sicherheit, ihre Haut Seelenruhe.
Er umarmt sie von hinten. Drückt sie. Vergräbt sein Gesicht in ihren Haaren, küsst sie auf den Nacken. Sanft, um sie nicht zu wecken. Während sein Atem den ihren einatmet, schläft er endlich ein.
Alice reißt die Augen auf. Sie ist entsetzt, wehrlos. Zu keiner Bewegung fähig. Sie hat alles gesehen.
4. JANUAR 1995, MITTWOCH
DER STRUDEL
1
R oberto erwacht von der Kälte. Die roten Ziffern auf der Anzeige der Stereoanlage besagen, dass es kurz vor sieben ist. Alice ist nicht mehr im Bett, bei ihm. Er sieht sie am Schreibtisch sitzen,
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