Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
schwacher Duft, kaum wahrnehmbar, kündigt eine Kraft an, die ihn von einem Moment zum anderen überwältigen könnte.
Er setzt sich zur Wehr. Nicht vor Manzini. Nicht mitten auf der Piazza. Er konzentriert sich. Die Muskeln sind noch entspannt. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet.
»Und hier liegt der Schlüssel«, sagt er. Er macht eine ausladende Handbewegung, als wolle er das ganze Dorf einschließen. »1. Januar 1945, 1. Januar 1995. Zwei Massaker, die über Jahrzehnte hinweg durch einen Ort miteinander verbunden sind, den Prà grand, und durch die Blutsverwandtschaft der Opfer von heute mit dem Schlächter von gestern. Case Rosse vergisst nicht, es steht auf dem Sockel.«
»Case Rosse würde aber gern vergessen. Wie oft hast du schon von dem Massaker am Prà grand reden hören, seit du hier bist?«
Roberto spricht nun etwas lauter. »Bis gestern noch nie. Aber auch wenn die Leute nicht darüber sprechen, vergessen tun sie mit Sicherheit nicht. Es gab keine einzige Blume bei der Beerdigung der Zanarinis. Aber für die Toten von 1945 bringt immer noch jemand welche zum Monte della Libertà.«
Manzinis Blick verschleiert sich. »Das ist nicht einfach.«
»Das verstehe ich besser, als du es dir vorstellen kannst«, antwortet Roberto. Er denkt an das, was er während des Tanzes gesehen hat, an den Schmerz, den jene Frau empfand.
Er löst sich, um ihren Namen zu suchen. Serena, sie hieß Serena. Schweigend liest er die Namen, während er langsam das Denkmal umrundet. Die Männer sind mit Namen und Nachnamen aufgeführt, die verheirateten Frauen entweder mit dem Mädchennamen oder dem des Ehemannes. Der Nachname Ferri verbindet viele der Opfer. Er zählt leise mit. »Dreizehn«, murmelt er, »von zwanzig. Männer, Frauen und auch ein Kind: Renato. Er war sechs Jahre alt.«
Ich habe ihn sterben sehen. Er war der Sohn von Serena und Francesco Ferri.
»Enrico Zanarini hat die ganze Familie ausgelöscht«, erklärt Manzini.
Roberto wird von einer Welle des Mitleids überwältigt. In dem Augenblick bricht plötzlich ein blauer, metallischer Blitz durch den Torbogen und verschlingt das Pflaster der Straße. Ein paar Zentimeter vor ihren Füßen kommt er zum Stehen, bevor sie auch nur daran denken können, zur Seite zu springen. Vier Halogenscheinwerfer blenden sie.
Was nichts ist im Vergleich zu dem Funkeln in Alices Augen, als sie aus dem Auto springt.
8
A lice trägt einen weißen Angorapullover und Jeans. Sie stützt die Hände in die Hüften. »Ciao«, sagt sie säuerlich zu Roberto. »Erinnerst du dich noch an mich? Wir waren mal …«, sie tut, als dächte sie nach, »ziemlich eng miteinander, ja.«
»Ich wollte dich gleich anrufen«, stammelt er. »Das hab ich gerade zu Manzini gesagt.« Er zeigt auf die Stelle, an der eben noch der Kollege gestanden hat. Der ist verschwunden. Er winkt ihm von der Tür des Kommissariats zu. Breitet die Arme resigniert aus. »Tut mir leid.«
»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich dir das abnehme?«, sagt Alice hart. »Ich versuche seit gestern Abend, dich zu erreichen. Du hättest es verdient, dass ich dir eine knalle.«
»Hör zu, ich bin mitten in einer Ermittlung, ich hab keine Zeit, hinter jedem herzutelefonieren …«
Er schafft es nicht, den Satz zu beenden. Eine Ohrfeige trifft ihn hart, trocken und gezielt. Robertos Wange rötet sich sofort.
»Du bist ein Arschloch. Und ich ein Dummkopf. Ich bin fünfzig Kilometer gefahren, um mich zu versichern, dass es dir gut geht, und jetzt höre ich dich sagen, dass du keine Zeit hast, hinter … hinter jedem herzutelefonieren!«
»Aber ich wollte doch …«
Alice macht auf dem Absatz kehrt und geht zum Auto. »Ich habe sehr wohl verstanden, was du wolltest.«
Er fasst sie am Arm. Sie versucht, sich seinem Griff zu entwinden. »Seit vier Jahren versuche ich, mir ein Leben ohne dich aufzubauen, mich daran zu gewöhnen, dass du nicht mehr da bist«, erklärt Roberto. Dann unterbricht er sich, schluckt ein paarmal und fährt fort. »Vier Jahre, in denen ich versuche, irgendwie ins Gleichgewicht zu kommen. Als ich dich wiedergesehen habe, habe ich Angst bekommen. Angst, dass alles vergeblich gewesen sein könnte. Vielleicht … vielleicht war es falsch, dass ich versucht habe, mich daran zu gewöhnen, dass du nicht mehr da bist. Vielleicht sollte ich mich daran gewöhnen, dass du da bist, nur … anders.«
Ein längeres und intimeres Bekenntnis, als er es jemals gemacht hat. Alice fühlt einen Sturm
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