Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
nackt.
»Ich muss los«, flüstert sie. »Um acht muss ich im Krankenhaus sein.«
Roberto fühlt sich, als hätte sie ihn mit einem Kübel Eiswasser übergossen.
»Warte. Ich mache Frühstück.«
Sie beginnt, sich anzuziehen. »Ich muss mich beeilen.«
Ein Abgrund tut sich zwischen ihnen auf. »Du bist ja wie ausgewechselt. Warum machst du das? Ich bin schließlich kein Fremder, mit dem du zufällig im Bett gelandet bist.«
Alices Wangen erglühen. Die Lippen verziehen sich zu einem bitteren Lächeln, während sie in ihre Jeans gleitet. »Ich weiß sogar zu gut, wer du bist. Was uns auseinandergebracht hat, ist lebendig und gegenwärtig.« Sie zeigt im Zimmer herum. »Hier, im Zimmer, zwischen uns.« Ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Ich habe dich gesehen. Ich habe … den Tanz gesehen.«
Roberto kann kaum sprechen. »Es wird nicht so sein wie früher«, hört er sich sagen, als spräche jemand anderes an seiner Stelle.
Sie schüttelt den Kopf. »Es wird genauso sein wie früher. Du tust nichts, um gesund zu werden. Es gibt bestimmt etwas, das man tun kann. Du hoffst einfach nur, dass deine Krankheit von selbst verschwindet oder dass du einen Weg findest, sie zu kontrollieren. Das wird nicht passieren. Du musst kämpfen, geh zu einem Arzt, lass dich untersuchen. Kümmer dich darum.«
»Ich hab unzählige Pillen geschluckt, und nie haben sie was genützt«, entgegnet er schwach. »Und kein Arzt hat jemals eine überzeugende Erklärung gefunden.«
Es war ausgerechnet einer der vielen Psychiater, die versuchte hatten, ihn zu heilen, der die Formulierung »der Tanz« geprägt hatte, weil es in der medizinischen Fachliteratur keinen passenden Begriff für das gab, was mit ihm geschah. Eine andere Größe von internationalem Ruf hatte nur die Achseln gezuckt, nachdem er ihn allen möglichen Tests unterzogen hatte. »Grand Mal?«, hatte er vermutet, wenig überzeugt, aber unfähig zu akzeptieren, dass er das Rätsel nicht lösen konnte. Aufgrund dieser spontanen Diagnose war Roberto auf Epilepsie behandelt worden in den wenigen Jahren, die er nach dem Tod seiner Eltern bei Onkel und Tante mütterlicherseits aufgewachsen war. Er hatte Valproat genommen und Carbamazepin und sich einer Computertomografie unterzogen, einer Radiografie und Kontrollen, Tests, Visiten. Die Resultate waren gleich null gewesen. Dieselbe Größe hatte sich noch weiter vorgewagt und Therapien empfohlen, die heute nicht mehr angewandt wurden, die aber, wie er sagte, in der Vergangenheit in den schwersten Fällen von Epilepsie sehr gute Ergebnisse gebracht hatten. Elektroschocks zum Beispiel oder die noch tiefgreifendere Leukotomie des Frontallappens, die Lobotomie.
Das war der Moment, in dem Roberto aufhörte, auf die Ärzte zu hören. Es war alles vergebens gewesen. Ob er sich behandeln ließ oder nicht, der Tanz manifestierte sich so oder so, unvorhersehbar und unkontrollierbar. Es begann immer mit dem Geruch nach verrotteten Blumen, den er mit schwülen Nachmittagen auf dem Friedhof verband. Sofort verspannten sich alle Muskeln. Jeder Zentimeter seines Körpers wurde von einer schmerzhaften Spannung heimgesucht. Auch das Gesicht, so sehr, dass es sich zu einer Grimasse verzog.
Nicht einmal Roberto selbst wusste, was danach geschah, wenn die Energie wieder abflaute. In dem Augenblick begann er eine kreisförmige Bewegung zu vollziehen, während der er mit absoluter Genauigkeit Momente aus dem Leben anderer Menschen erlebte, als wäre er sie selbst. Er sah, er fühlte. Und litt. Er konnte nichts anderes tun. Er konnte weder etwas verhindern noch irgendeine Geste oder eine Handlung ausführen. Er war Zuschauer. Am Ende erinnerte er sich an wenige ungeordnete Bilder. Gefühle. Worte.
Der Tanz trägt mich davon, er macht mich zu etwas anderem. Er lässt keinerlei Vermittlung zu, er wirbelt auf, was er auf seinem Weg findet. Er hatte sich bemüht, es zu verbergen, was dadurch erleichtert wurde, dass solche Krisen nach der Adoleszenz seltener auftraten. Aber zwei Personen gegenüber hatte er sich offenbaren müssen. Eine war Augusto Bernini. Die andere steht vor mir.
Er springt aus dem Bett. Er stellt sich vor Alice. In ihren Augen sieht er nur goldfarbenes Eis. »Ich bin nicht krank«, flüstert er. »Das bin ich, ich bin so. Es gehört zu mir.« Er versucht, sie in den Arm zu nehmen. Sie ist jetzt vollständig bekleidet. Nur die verwuschelten Haare erinnern noch an das, was vor wenigen Stunden geschehen ist. Sie bewegt sich nicht,
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