Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
Bett liegen sehen, die Knie an die Brust gezogen. Sie weinte. »Was ist mit dir passiert?«, stammelte sie. »Wer bist du?«
»Deine Schwester …«, hatte er schließlich geflüstert. »Du hast deine Schwester erstickt.«
Alice hatte es nicht abgestritten. Sie hatte sich nicht verteidigt. Sie hatte nur geflüstert: »Warum hast du nicht gewartet, bis ich es dir erzähle?«
In Robertos Augen stand tiefe Enttäuschung. »Warum hast du mich angelogen? Ich habe mich dir geöffnet, ich habe dich in meine Seele gelassen. Und du …«
Sie war aufgestanden. »Ach ja? Du hast dich geöffnet? Und was ist mit dem, was dir hier gerade passiert ist? Du bist hier auf und ab gegangen mit einem schrecklich verzerrten Gesicht, hast irgendwelche unverständlichen Worte gestammelt. Wie ein Irrer. Ist das das erste Mal, dass dir das passiert?«
Roberto hatte die Augen niedergeschlagen. Er konnte ihrem zornerfüllten Blick nicht standhalten. »Das erste Mal war, als meine Eltern gestorben sind.«
Alices Stimme war schneidend geworden: »Was für eine Krankheit ist das?«
Er hatte den Kopf geschüttelt. »Das ist keine Krankheit. Es ist etwas, das zu mir gehört. Ich hätte dir davon erzählt.«
Alice hatte ihn zurückgestoßen. Einmal. Zweimal. Dreimal. Bis zur Tür. Etwas in ihr war zerbrochen. Etwas tief drinnen. Der Mann, den sie liebte, hatte ihr wehgetan. Er hatte ihre Privatsphäre verletzt und war in ihre Geheimnisse eingedrungen. Was sie gesehen hatte, war schrecklich gewesen. Und es hatte gefährlich ausgesehen.
»Das, was ich für meine Schwester getan habe, gehört auch zu mir. Ich hätte dir davon erzählt.« Sie hatte die Tür aufgerissen. »Hau ab.«
»Wir können doch …«
Alice hatte angefangen zu schreien: »Nichts können wir mehr, du und ich! Du hast mich angelogen. Du hast in meinem Leben herumgeschnüffelt. Du hast mir nicht vertraut. Du bist doch krank. Hau ab!«
Noch in derselben Nacht hatte Roberto mit Bernini gesprochen. Er war noch einen Monat in Rom geblieben, war aber nicht mehr bei ihr gewesen. Dann war die Versetzung vollzogen worden.
Jetzt stehe ich hier, im Zimmer des Kommissariats von Case Rosse, vor einer Tür, die sich erneut zu einer Trennung öffnet. Und dieses Mal wird es für immer sein.
Alice entwindet sich seiner Umarmung. »Unserer Geschichte fehlte nur noch der Abschied«, sagt sie. »Jetzt ist es so weit.«
Sie geht, ohne sich umzudrehen. Kurz darauf heult ein Motor auf. Sie verlässt Case Rosse.
2
A lices Augen stehen voller Tränen. Sie kann nicht fahren. Nach zwei Kurven im Nebel hält sie an einer der seltenen Ausweichstellen an, die den Kastanienhang unterbrechen. Sie legt den Kopf aufs Lenkrad und weint heftig, geschüttelt von verzweifelten Schluchzern. Schluchzer, die den Dingen vorbehalten sind, die zu Ende gehen.
»Silvia«, stammelt sie. »Ich wollte doch nur, dass es dir besser geht.«
Bis diese überaus seltene, verspätete Form von Hutchinson-Gilford diagnostiziert wurde, einer Krankheit, die zu einem verfrühten Altern des Körpers und normalerweise zum Tod in den ersten fünfzehn Lebensjahren führt, war Silvia Capelveneri ein ganz normales, gesundes junges Mädchen gewesen. Nur ein bisschen hübscher als der Durchschnitt und innig mit der Schwester verbunden. In jenen schrecklichen Tagen hatte sie sich langsam, aber unaufhaltsam in eine alte Frau verwandelt, die unbeweglich im Bett einer luxuriösen Klinik lag: Sie wäre vor Hunger und Durst gestorben, wenn man sich nicht um sie gekümmert hätte. Und in klaren Momenten war sie sich ihrer Lage nur zu bewusst.
»Welchen Sinn hätte es gehabt, dich am Leben zu lassen?«, fragt sie in den Nebel hinein. Für Silvia war die Möglichkeit zu sterben allgegenwärtig gewesen. Daher hatten die Ärzte auch, ohne zu zögern, einen natürlichen Tod festgestellt. Eine Einschätzung, die vielleicht auch durch den Einfluss des Vaters ermöglicht wurde. Alice hatte immer den Verdacht gehabt, dass ihr Vater etwas geahnt hatte. Eines Tages hatte er ihr sogar gestanden, dass, hätte er den Mut dazu gehabt, er es selbst getan hätte. Ohne näher darauf einzugehen, hatte er sie in den Arm genommen, was überaus selten geschah.
Zusammengesackt im Celica spürt sie einen quälenden Schmerz in der Brust.
»Wie soll ich Robertos Krankheit akzeptieren, wenn er sie nicht zuerst selbst akzeptiert? Wenn er nicht zugibt, dass er sich behandeln lassen muss? Wie soll ich das können?«
3
E inem vertrauten Impuls folgend,
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