Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
durchbricht Roberto die Erstarrung, indem er die Laufschuhe anzieht. Er läuft ohne Musik. Er läuft und zwingt sich dazu, nicht zu denken. Er wirft sich den Hang hinter dem Torbogen hinunter. Durch eine Laune des Schicksals läuft er an Alices Auto vorbei. Das Fahrzeug ist im Nebel versunken und er in etwas, das er als Leere empfindet. So verschwindet auch die letzte Möglichkeit einer Klärung.
Er erhöht das Tempo, bis es unerträglich wird. Reißt den Mund auf und trinkt die Luft, als könnte sie ihn von innen heraus reinigen. Er hält das mörderische Tempo aufrecht. Er will sich wehtun, will so die Verzweiflung darüber, Alice verloren zu haben, auslöschen, die Enttäuschung, noch nicht herausgefunden zu haben, wer Benedetta ermordet hat, ihre Familie und Berto Guerzoni, die Qual, weil sein Leben um ihn herum eingestürzt ist, ohne ihm auch nur die Chance zu lassen, etwas davon zu verhindern.
Irgendetwas erschüttert ihn tief im Inneren und wendet sich in Wellen nach außen. Der Atem bricht sich in Schluchzern, die unmöglich zurückzudrängen sind. Die Tränen werden zu eisigen Nadeln, die die Wangen durchdringen.
Kaum hat er den Wald erreicht, bleibt er stehen und überlässt sich unbekannten Empfindungen. Es gibt Versprechen, die man als Kind gibt und ein Leben lang hält. Oder zumindest so lange, bis etwas so Großes geschieht, dass man es nicht mehr schafft.
Entschuldige, Mama, denkt er. Und weint. Weint verzweifelt. Weint lange. Als es ihm gelingt, sich zu beruhigen, bricht er am Fuß eines dicken Stammes zusammen, gefrorenes Gras unter seinen Händen. Er bleibt so lange auf der Erde liegen, bis er wieder so etwas wie Kontrolle über sich zurückgewonnen hat. Dann steht er auf und läuft in einem ruhigeren Tempo weiter.
Und denkt wieder über den Fall nach. Das ist das Einzige, was mir bleibt. Danach kann ich wieder untertauchen.
Er kommt erneut an dem kleinen Ausweichplatz vorüber, an dem Alice angehalten hatte. Der Nebel hat sich gerade so weit gelichtet, um zu erkennen, dass der Platz leer ist.
4
A ls er zurückkommt, wendet Roberto sich direkt der Osteria zu. Durchgeschwitzt, die leichte Laufjacke bedeckt mit feinen Tröpfchen. Ich will alles aufklären.
Das Lokal ist noch nicht vom Rauch der Zigaretten und Zigarren verqualmt. Es sind gerade mal zwei Stammgäste da, die Köpfe über die Zeitung gebeugt, ein Glas in der Hand. Hinter den Tresen gezwängt, auf dem die gleichen Kartoffeln und Eier wie gestern Abend aufgebaut sind, erinnert Alver an einen Gorilla in einem zu engen Käfig.
»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragt er, als hätte es nie eine Auseinandersetzung zwischen ihnen gegeben. »Ein bisschen Wasser, um den Durst nach der Gymnastik zu stillen?« Robertos Sport zählt zu den Dingen, die ihn von den Leuten im Dorf trennen. Hier wird man entweder durch Arbeit auf dem Feld oder durch andere schwere Tätigkeiten müde, oder man ruht aus. Man ermüdet sich nicht vorsätzlich. Die Jungen spielen ohne Ehrgeiz Fußball, die Alten werfen die Ruzzola – eine schwere Holzscheibe – die treppi entlang, die kleinen Trampelpfade durch die Felder. Einfach nur ziellos zu rennen, ohne irgendwo ankommen zu wollen, ist nicht zu verstehen.
»Einen Kaffee«, antwortet Roberto, der allmählich zu seiner Atemfrequenz zurückfindet. »Filterkaffee, stark und in einer großen Tasse.«
»Soll ich ihn Ihnen mit einem Schuss Grappa verfeinern? Ein kleines Schlückchen hebt die Auswirkungen des Rauschs vom Vortag wieder auf«, erklärt der Wirt, während er mit der alten Faema beschäftigt ist.
Robertos Stimmung wird mit einem Schlag noch finsterer als die Flüssigkeit, die ihm eher grob serviert wird. »Wo ist deine Mutter?«, fragt er barsch.
»Sie ist müde und zu Hause geblieben.«
»Also unterhalten wir zwei uns jetzt. Wie kommt es, dass du am Neujahrstag am Monte della Libertà warst? Wie hast du’s angestellt, noch vor mir dort zu sein?«
Alvers Gesicht nimmt denselben drohenden Ausdruck an wie am Vorabend. Im Dorf kursieren einige Geschichten darüber, wie viele Menschen er mit seinen Faustschlägen schon ins Krankenhaus befördert hat. »Was geht Sie das an?«
Ungeachtet der vollkommen unterschiedlichen Statur beugt sich Roberto über den Tresen und packt ihn am Hemd. »Auch wenn es dir und allen anderen aus dem Dorf vollkommen egal ist, ob der wahre Schuldige Berto Guerzoni ist oder nicht«, knurrt er den Wirt wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt an, »werde ich nicht
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