Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
entzieht sich aber auch nicht.
In Robertos Erinnerung werden Bilder wach. Sie springt vier Jahre zurück, nach Rom. Die Nacht, in der er in Alices Zimmer in der Via del Governo Vecchio gestürzt war. Sie war wach gewesen, bereitete sich auf eine Prüfung vor. Sie hatte ihn mit einem Lächeln empfangen, das erlosch, als sie das Blatt sah, das er umklammert hielt. Eine Auskunft über den Familienstand, die ihm ein Angestellter der Stadt Bologna ein paar Stunden zuvor in einem Café an der Piazza Maggiore ausgehändigt hatte.
Einen Monat zuvor hatte der Tanz mich in einer schlaflosen Nacht überrascht, während ich den Tiber entlangschlenderte. Ich fand mich in einem Krankenhauszimmer wieder. Vor mir eine alte Frau, die zusammengekrümmt in einem weißen Bett lag. Ich tupfte ihr die ausgetrockneten Lippen mit einem feuchten Taschentuch ab, um ihr etwas Erleichterung zu verschaffen. Ich hatte Frauenhände, kurze und gepflegte Fingernägel.
Die Kreatur hatte die Augen aufgeschlagen. Vorquellende Augen, trüb. Unverwechselbare Augen, bernsteinfarben. Augen, die fest auf mich gerichtet waren. Ich hatte Erleichterung empfunden. Ich hatte Zuneigung und tiefe Zärtlichkeit empfunden. Die Zärtlichkeit einer Schwester. »Silvia«, hatte ich gesagt, gerührt.
Sie hatte das erste Wort seit Monaten ausgesprochen: »Töte mich.«
Ich war dermaßen aufgewühlt, dass ich das Zimmer verlassen musste. Dabei war ich an einem Spiegel vorbeigekommen und hatte mein Bild in einem Spiegel gesehen. Ich war Alice. Und irgendwie wusste ich, dass die alte Frau in dem Bett meine Schwester war, auch wenn sie mehr als siebzig Jahre alt aussah.
Roberto hatte an einem Scheideweg gestanden. Der Tanz hatte ihn immer Bilder von Dingen sehen lassen, die geschehen waren oder gerade geschahen. Nur Vergangenheit und Gegenwart, niemals Zukunft. Und niemals etwas, das nicht Wirklichkeit war. Aber Alice hatte ihm gesagt, sie sei ein Einzelkind. Tagelang hatte er mit sich gerungen, ob er ungeachtet der Folgen der Wahrheit nachgehen oder so tun sollte, als wäre nichts gewesen. Er hatte sich für den ersten Weg entschieden.
So war er mit jenem Blatt Papier angekommen, mit dem er ihr vor dem Gesicht herumwedelte, auf dem stand, dass Ruggero Maria Capelveneri zwei Töchter gehabt hatte, von denen eine, Silvia, sehr jung gestorben war.
Bevor Alice antworten konnte, war Roberto überwältigt worden. »Verrottete Blumen …«, hatte er gerade noch stammeln können, dann hatten sich seine Gesichtszüge verzerrt. Er hatte vor sich hin gestammelt, die Fäuste geballt. Entsetzt war sie einen Schritt zurückgewichen. Sie hatte keine Ahnung, was geschah. Er hatte angefangen, im Kreis zu gehen, erst langsam, dann immer schneller.
Ich war wieder in dem Krankenhauszimmer, sah aber alles aus einer anderen Perspektive. Ich lag in dem Bett. Ich wusste, dass ich noch jung war, fühlte mich aber wie ein schrottreifes Wrack. Ich war nicht immer so gewesen, sondern war eine ganz normale junge Frau, bis plötzlich mein Körper angefangen hatte zu verfallen. Zu altern. Irgendeine Krankheit mit einem unaussprechlichen Namen. Das Bett, an das ich gefesselt war, war meine Welt geworden.
Ich wollte zumindest selbst entscheiden, wie ich sterbe, wenn es mir schon nicht gestattet war, irgendetwas anderes zu entscheiden. Ich war wild entschlossen. Das war mein Recht. Ich hatte gesehen, wie Alice ans Bett trat, hatte gefühlt, wie sie meine Lippen anfeuchtete. Nur sie konnte ich bitten. Meine Schwester.
»Töte mich.«
Welche Freude hatte ich empfunden, als mir klar wurde, dass ich es geschafft hatte, diese Worte auszusprechen. Sie jedoch war fortgegangen.
Als sie zurückkam, sagte sie mir, dass sie es tun würde. Sie hatte mir die trockenen Lippen befeuchtet. Mir das Kissen unter dem Kopf hervorgezogen. Dann war alles schwarz geworden und immer schwärzer. Ich bekam keine Luft mehr. Das Leben wich aus mir heraus im Rhythmus der Atemzüge, die ich nicht tun konnte.
Da wusste ich, dass ich nicht sterben wollte. Auch wenn ich in den letzten Zügen lag, konnte das Leben mir noch etwas geben. Ich hatte versucht, es meiner Schwester zu sagen.
Unmöglich.
Alice drückte das Kissen und weinte. Ich hörte sie. Die Luftnot überwältigte mich. Ich musste sie aufhalten, aber ich konnte nicht sprechen. In einem letzten Aufbäumen hatte ich versucht, alle Kräfte zusammenzunehmen, um sie wegzustoßen. Dann nichts mehr.
Als der Tanz zu Ende war, hatte Roberto Alice zusammengerollt auf dem
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