Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
Sizilianische Gerichte. Sie haben keinen dazu passenden Wein aus der Region, aber der Pignoletto, den Manzini mitgebracht hat, trinkt sich, dass es eine Freude ist. Um Mitternacht sind drei Flaschen geleert.
Manzini benachrichtigt Teresa, dass er die Nacht im Kommissariat verbringen wird. Roberto, blau, wie er ist, schafft es, ihm dankbar zu sein. Er weiß, was es für den Kollegen bedeutet: Seine Töchter werden nur noch bis zum Dreikönigstag in Case Rosse sein, dann kehren sie nach Bologna zurück. Bei allem, was geschehen ist, hat er praktisch überhaupt keine Zeit gemeinsam mit ihnen verbracht.
Nach dem Essen kommen die Dominosteine und die Flasche Nusslikör auf den Tisch. Das ist der Gnadenstoß für Roberto, der sich gerade den schlimmsten Rausch seines Lebens einhandelt. Bis zu seinem Umzug nach Case Rosse hatte er nicht einen Tropfen Alkohol angerührt. Dann hatte er sich der Tatsache ergeben, dass der Wein zum täglichen Leben des Dorfes gehört und als stete Quelle des Wohlbefindens und des Vergessens dienen kann. Er vollführt sinnlose Spielzüge, die Manzini postwendend bestraft. Als er an der Reihe ist, die Steine neu zu mischen, fallen ihm einige runter. Er kniet sich hin, um sie zu suchen. Als er sich wieder hinsetzt, hält er inne.
»Guerzoni kannte die Opfer. Guerzoni hat gestanden. Guerzoni ist der perfekte Schuldige. Das denkst auch du, auch wenn du nicht den Mut hast, es laut zu sagen. Ich dagegen … Der Strudel reißt mich mit sich.«
Verständnis schwingt in Manzinis Stimme mit: »Dieser Fall macht dich fertig.«
»Es ist mein letzter«, antwortet Roberto mit belegter Stimme. »Ich habe es Bernini schon angekündigt. Aber jetzt kann ich nicht aufhören. Das bin ich diesem Mädchen schuldig. Und mir auch, weil mir nichts anderes bleibt.«
Er betrachtet die Flüssigkeit in dem kleinen, schweren Glas, dann leert er sie in einem Schluck. »Und ich bin es meinem Vater schuldig.«
»Deinem Vater?« Die Frage verletzt ihr stillschweigendes Diskretionsabkommen, aber Manzini schafft es nicht, sie nicht zu stellen. Roberto hat nie darüber gesprochen.
»Eine Scheißgeschichte. Stell dir vor: Es war einmal eine glückliche Familie. Ein Vater, eine Mutter und ein Sohn. All so was. Die Mutter war Köchin in einem kleinen Restaurant, der Vater arbeitete als Polizist, und der Sohn ging auf die Oberschule. Der Vater nahm an gefährlichen Einsätzen teil. Für ihn gab es nur wenige und einfache Regeln: Finde den Bösen, fang den Bösen; wenn der Bösewicht Widerstand leistet, erschieß ihn, bevor er dich erschießt. Wenn er wüsste, dass sein Sohn nie eine Pistole mit sich trägt, würde er ihn fragen, ob er überhaupt ein richtiger Polizist ist. Rom ohne das Kolosseum wäre nicht Rom, stimmt’s?«
Roberto unterbricht sich, um sein Glas zu füllen. »August 1976. Siebzehnter Geburtstag des Sohnes. Die Familie beschließt, diesen am Meer zu feiern. Wo wir gerade dabei sind, geben wir ihnen doch Namen: Der Vater heißt Saverio, die Mutter Miriam. Der Sohn ist der Besoffene, der hier vor dir sitzt. Klugerweise fahren sie noch vor dem Morgengrauen los. Saverio sitzt am Steuer, Miriam daneben. Das Kind auf dem Rücksitz. Ein Motorrad fährt neben sie. Ein schwarzes Motorrad, auf dem zwei schwarz gekleidete Männer sitzen. Der Mann auf dem Rücksitz hat ein Maschinengewehr im Arm.«
Roberto schweigt, starrt auf einen Punkt auf dem Tisch. Manzini hat nicht den Mut, ihn anzusprechen.
»Er eröffnet das Feuer. Die Schädel von Miriam und Saverio explodieren. Ihr Blut trifft den Jungen ins Gesicht, auf die Arme. Es fließt ihm in den Mund. Sie werden irgendwo dagegenknallen. Der Junge, aus welchem Grund auch immer, bleibt unverletzt. Er schafft es, aus dem Wagen herauszuklettern, bevor er in Flammen aufgeht. Ein verdammtes Wunder.«
Er kippt ein weiteres Glas Nocino herunter. »Ende der Geschichte. Ah, nein, ich vergaß. Dem Vater haben sie einen Orden verliehen. Seinem Andenken zu Ehren.«
»Wer war das?« Ein Flüstern. Manzinis Augen sind riesengroß.
Roberto schüttelt den Kopf. Ein Knoten schließt seine Kehle. »Das Einzige, was mit Sicherheit feststeht, ist, dass es sich um eine organisierte Gruppe handelte. Der Vater musste irgendjemandem auf die Füße getreten sein. Jetzt kocht dieses Kind wie seine Mutter und ist Polizist wie sein Vater, aber es benutzt keine Waffen. Ein Fest für alle Psychologen. Ja, zu denen bin ich auch jahrelang gegangen, ich hab bei allen möglichen gesessen. Angefangen
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