Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
hat einen sauberen Geruch, beinahe süß.
Nie wieder werde ich so viel trinken, gelobt er, wie man das so tut unter solchen Umständen, während er mit Zahnbürste und Zahnpasta versucht, diesen schlammigen Geschmack im Mund loszuwerden. Aus dem unteren Stockwerk dringt ein angenehmer Kaffeeduft nach oben. Bevor er nach unten geht, kehrt er in sein Zimmer zurück. Nach kurzem Zögern streicht er Berto Guerzoni aus dem Kreis »Täter« und fügt ihn zu den Opfern hinzu, unter die Zanarinis.
Die Puzzleteilchen fangen an, an ihren Platz zu rutschen. Wer weiß, was für ein Bild sich daraus ergibt. Es gelingt ihm nicht, nicht an die Schwarz-Weiß-Fotos in Aldrovandis Buch zu denken. Ein durch Bombardierung zerstörtes Dorf, durchquert von Militärkolonnen.
Im Zimmer im ersten Stock wird er von Manzinis verständnisvollem Lächeln empfangen. Er ist beinahe froh, auch in seinem blassen Gesicht dunkle Augenringe zu entdecken.
»Also hat’s dich auch erwischt«, sagt er zu ihm, als er die bis zum Rand gefüllte Tasse entgegennimmt.
Der andere nickt, ohne den Mund aufzumachen. Als sie sitzen, vertieft sich jeder in seinen Kaffee. Der Kollege schenkt ihm eine zweite Tasse ein. »Fahr so bald wie möglich los, es wird Sturm geben.«
2
V or Alvers Osteria sind die üblichen Gesichter zu sehen. Agnese, anderthalb Meter Körpergröße auf mindestens einem Doppelzentner Gewicht, ordnet Obst und Gemüse gut sichtbar vor seinem Laden, direkt neben dem Delikatessengeschäft von Ilvaro Prostrati, in dem Roberto sich für gewöhnlich eindeckt. Aus dem Kiosk der Zwillinge tritt Bürgermeister Raimondi, die Zeitungen unter dem Arm. Als er Robertos Weg kreuzt, wünscht er ihm mit einem seltsamen Lächeln einen guten Tag.
Ein ganz normales Lächeln. Du wirst allmählich paranoid. Kaum ist er in den Campagnola gestiegen, stellt er die Musik an, die er für den fünfzig Kilometer langen Kreuzweg, der vor ihm liegt, ausgewählt hat: das Album Cambio von Lucio Dalla.
Der Nebel hat sich endlich aus dem Apennin zurückgezogen, aber die Fahrt gestaltet sich dennoch nicht gerade angenehm. Die Straße ist dermaßen vereist, dass man sich darin spiegeln könnte. Erinner dich an Manzinis Ratschläge. Das Bremspedal gibt es nicht. Man muss mit dem Motor bremsen, indem man herunterschaltet. Leichter gesagt als getan.
Er muss nur heil bis zu dem Abzweig zum Monte della Libertà kommen. Danach weichen die Serpentinen dem sogenannten »drittone«, einer langen Geraden bergab. Daran klammert er sich, während er sich durch das ständige Schalten eher sprunghaft fortbewegt. Dritterzweiter, zweiterdritter, dritterzweiter …
Als die Straße direkt auf das Tal zeigt, ist Roberto schweißgebadet. Das Schlimmste habe ich hinter mir. Er pfeift sogar mit bei Le cicale e le stelle .
Auf der Hälfte der Geraden versucht er, das Bremspedal zu treten. Der Wagen reagiert nicht. Zu zaghaft. Er tritt das Pedal bis nach unten durch. Nichts geschieht.
Er senkt den Blick auf die Tachonadel, die über die neunzig klettert und weiter nach oben wandert.
Hektisch dreht er am Lenkrad. Nutzlos. Er tritt wahllos auf die Pedale. Nutzlos. Er kann nichts tun, um den Campagnola zu bremsen.
Die Nadel übersteigt einhundertzehn. Vor ihm eine Haarnadelkurve. Und eine Wand aus Baumstämmen. Ich muss mich hinauswerfen. Er umklammert den Türgriff.
Die Tür ist blockiert.
Eine Falle, kann er nur noch denken, bevor sich die Welt auf den Kopf dreht. Einmal. Dann noch einmal. Und wieder. Eine riesige Kastanie füllt den umgedrehten Horizont.
Der Aufprall ist schrecklich. Die Windschutzscheibe explodiert. Ein stechender Schmerz durchfährt die rechte Schulter. Tausende von scharfen Nadelstichen quälen das Gesicht. Dann nimmt ihm ein heftiges Brennen im Brustkorb den Atem und raubt ihm die Sicht.
Das wenige, was noch von dem Geländewagen übrig bleibt, kommt auf dem Grund einer Schlucht zum Liegen, die Räder in der Luft. Aus der Fahrgastzelle dringt die Stimme von Lucio Dalla.
»Senti, io ti guardo ma non mi senti. Urlo forte, ma non mi senti. Se muoio tu non mi senti. Ecco, vedi, siamo soli nel silenzio della notte. A guardare e ascoltare …« 3
3
R oberto treibt auf einem Meer aus dickflüssigem Pech dahin, das ihm Licht und Luft entzieht. Er gerät mit dem Kopf unter die Oberfläche, schluckt Dunkelheit. Bekommt keine Luft.
Er öffnet die Augen oder glaubt es zumindest. Er kann nur vage Formen wahrnehmen. Schatten von Menschen, die seine Welt und seine Albträume
Weitere Kostenlose Bücher