Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
von denen, die mir gesagt haben, es würde mir guttun, laufen zu gehen, bis hin zu denjenigen, die mir einen Teil des Gehirns entfernen wollten.«
»Ich verstehe«, mehr bringt Manzini nicht heraus. Die Erzählung muss bittere Erinnerungen in ihm geweckt haben.
»Ich hatte dich gewarnt, dass es eine Scheißgeschichte ist«, entschuldigt Roberto sich beinahe. Unbeholfen steht er auf. »Es ist Zeit, zu Bett zu gehen, aber vorher stoßen wir ein letztes Mal an.«
Sie erheben die Gläser. »Auf Case Rosse. Auf den Strudel.« Roberto leert sein Glas, dann muss er sich plötzlich am Tisch abstützen, um nicht umzufallen. Das Zimmer dreht sich um ihn herum, ihm wird schlecht.
Manzini steht auf, um ihm zu helfen. Er bleibt wie erstarrt stehen. Wortlos zeigt er auf eine Stelle auf dem Fußboden. Nur mit Mühe kann Roberto genau hinsehen. Vorsichtig beugt er sich vor und sucht tastend.
Er lacht zu laut und hebt die Zwille auf. »Die muss heruntergefallen sein, als ich die Dominosteine gesucht habe.« Er kann kaum weitersprechen, geschüttelt von Lachanfällen. »Ich hab nicht mal mehr gewusst, dass ich sie noch bei mir habe. Ich bin dermaßen fertig, dass ich nicht mal mehr weiß, wie die hier reingekommen ist, das sagt schon alles.« Er kneift ein Auge zu. »Mein Ass im Ärmel, das Ypsilon. Morgen zeige ich es Professor Aldrovandi, und er wird mir sagen, dass ich den Fall gelöst habe! Oder er ruft das nächste Irrenhaus an.«
Mit unsicheren Fingern lässt er das Stückchen Holz vor Manzinis Gesicht hin und her baumeln, der den Blick abwendet. Er konzentriert sich auf einen unbestimmten Punkt vor dem Fenster.
»Es ist Zeit, ins Bett zu gehen.«
5. JANUAR 1995, DIENSTAG
TEE IN BOLOGNA
1
E in hartnäckiges Klingeln durchbohrt Robertos Schläfen. Das Telefon. Blind streckt er eine Hand aus und schafft es wundersamerweise, den Hörer abzunehmen. Mit einem halb geöffneten Auge blickt er auf die Anzeige der Stereoanlage und erkennt eine rote Acht. Der Alkohol hat ihn mehrere Stunden betäubt, aber er fühlt sich alles andere als erholt. Er fühlt sich, als wäre er mit einem Rucksack voller Steine auf dem Rücken einen Marathon gelaufen.
»Wer da?«, nuschelt er. Mir ist, als hätte ich eine Kartoffel im Mund. Verfault, dem Geschmack nach.
»Alles in Ordnung?«
Bernini! Roberto formt mit offenem Mund alle Vokale des Alphabets. Danach schafft er es in beinahe akzeptabler Weise, ein paar Wörter zu bilden: »Gut, danke, und Sie?«
Er lügt, aber seine Antwort muss beruhigend genug auf den Questore wirken. »Die Berichte sind gekommen. Es gibt einen Fehler in der Rekonstruktion von Hört-hört. Einen enormen Fehler. Ich fürchte, der Fall wurde zu früh abgeschlossen.« Er spricht diese Worte in einem so beiläufigen Ton aus, dass er ihn nicht beibehalten kann. »Dieser Idiot hat dieses Mal so richtig ins Klo gegriffen. Der Rechtsmediziner hat einen Befund entdeckt, ich zitiere wörtlich: ›Eine Kontusion auf der rechten Seite des Kopfes, verursacht durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand, der auf der rechten Seite sowohl das Schläfenbein als auch das Scheitelbein eingedrückt hat.‹ Alles war dermaßen angeschwollen, dass niemand es bemerkt hatte. Aber dafür sind Autopsien schließlich da, nicht wahr? Und Berichte sollten auch gelesen werden, nicht nur geschrieben. Ich habe die Fotos gesehen: Ich wette meine letzte Lucky Strike, dass der stumpfe Gegenstand der Kolben des Gewehrs war.«
In seiner Stimme schwingt keine Spur von Genugtuung mit. Nur Bitterkeit gegenüber jemandem, der trotz wiederholter Warnungen einen kolossalen Fehler gemacht hat.
Roberto versucht, klar zu denken, aber der glühende Nagel, den er in seinem Kopf spürt, macht das schwierig. »Also …«, brummt er.
»Also könnte er erst bewusstlos geschlagen und dann aufgehängt worden sein. Mord, kein Selbstmord. Oder er könnte von selbst auf den Kolben des Gewehrs gefallen sein. Ich weiß es nicht, Serra. Aber ich weiß, dass du gut daran getan hast, nicht nachzulassen. Jetzt steh auf, es ist Zeit zu arbeiten. Ich geh jetzt und mach Sernagiotto die Hölle heiß. Persönlich.«
Aufstehen. Ein Wort. Nach neun schafft er es. Wie eine riesige Schnecke ohne Haus schleppt er sich ans Fenster. Das milchige Licht, das durch die Wolken dringt, löst ein wildes Trommelkonzert in seinem Kopf aus. Die Piazza ist frei von Nebel. Endlich. In vollen Zügen atmet er die kalte Luft ein, die seine Rückkehr in die Welt der Lebenden befördert. Sie
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