Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
erklärt er, während er es vorsichtig zurücklegt. »Doch es ist gute Sitte, dass jede Geschichte mit dem Anfang beginnt.«
NEUJAHRSTAG 1945, MONTAG
SFREGIOS GESCHICHTE
1
F ür die Menschen in Case Rosse war von den fünf Kriegswintern der letzte der härteste. Es war der Winter des Patts.
Bis zu jenen Tagen waren es die Leute aus dem Dorf gewesen, die in den Krieg gezogen waren. Jetzt war der Krieg bei ihnen zu Hause angekommen.
2
E r schreckte aus dem Schlaf hoch, durchgeschwitzt trotz der beißenden Kälte. Hellwach setzte er sich auf und legte die Hand an das Gewehr, das er, wenn er schlief, immer neben sich liegen hatte.
Sfregio schaute sich um. Im rötlichen Licht der wenigen Holzscheite in der Feuerstelle, die noch glommen, sah er eine Handvoll junger Männer, erschöpft und übel zugerichtet, die einer an den anderen geschmiegt schliefen, um sich in dem Stall am Ca’ de Fràb gegenseitig zu wärmen.
»Ein schlimmmer Traum«, murmelte er und stieß dabei Atemwölkchen aus. Er würde keinen Schlaf mehr finden. Seit einiger Zeit suchten ihn Albträume heim, an deren Handlung er sich später nicht erinnerte, nur an die Protagonisten: seine Frau Serena und ihre Söhne, Renato, sechs Jahre, so klein, dass ihn alle Renatino nannten, und Valerio, drei Jahre. Er hatte dafür gesorgt, dass sie in Sicherheit waren außerhalb des Dorfes, sie waren in das Kloster von Braglie geflohen, hinter dem Monte San Giacomo.
Und dennoch kehrte dieser verfluchte Traum jede Nacht wieder. Eine Stimme in ihm fragte hinterhältig, ob es überhaupt noch sichere Orte gab. Das Massaker von Marzabotto hatte bewiesen, dass es nicht einmal für Jesus Christus noch Respekt oder Erbarmen gab; nicht einmal für die Kinder, waren sie dort doch mit Maschinengewehrsalven und Handgranaten direkt vor dem Altar oder zwischen den Gräbern ihrer Verwandten niedergemäht worden.
»Sfregio, wir haben eine wichtige Mission vor uns. Wenn du so weitermachst, weckst du noch alle auf.« Zustimmendes Gemurmel.
»Du hast recht, Professore. Ich kann mir genauso gut ein bisschen die Beine vertreten.« Er warf sich den Wehrmachtmantel über, den er als Decke benutzte, und schickte den frierenden Briscola schlafen, der Wache stand.
Kaum hatte er die Tür aufgestoßen, traf ihn der schneidende Wind ins Gesicht. Im Licht des halben Mondes glitzerten der Schnee und das Eis in unendlichen silbernen Spiegelungen. »Heute Nacht tanzt der Fuchs«, sagte er ins Nichts hinein. Es war so kalt, dass der Fuchs die Füße auf dem Eis nicht still halten konnte, sodass es aussah, als tanzte er. Eine Redensart seiner Mutter.
Ein weiterer Anlass zur Sorge. Veronica hatte Ca’ Libertà nicht verlassen und ins Kloster fliehen wollen. Mit ihr waren drei Kinder zurückgeblieben: die beiden Mädchen, Anna und Pia, und Efrem, der Kleinste. Von den beiden Älteren wusste man schon seit einiger Zeit nichts mehr. Arrigo und Livio waren zu den Gebirgsjägern eingezogen und vor Jahren schon an die unglückselige Ostfront geschickt worden, die Hitler in Russland eröffnet hatte und der Mussolini sich angeschlossen hatte, um dort ebenfalls jene tausend Toten beizutragen, die ihm, so glaubte er, es erlauben würden, am Tisch der Sieger Platz zu nehmen.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der auch er, damals noch einfach nur Francesco, dem italienischen Heer angehört hatte. Wie die anderen jungen Männer aus dem Apennin auf den Balkan und den Peloponnes geschickt, hatte er – nach dem Waffenstillstand vom 8. September 1943 und der Geburt jener Republik, die von Salò aus die Agonie eines bereits in die Knie gezwungenen Italiens noch verlängern wollte – allmählich nicht mehr gewusst, wer Freund oder Feind war. Es wurde ihm erneut auferlegt, ein schwarzes Hemd zu tragen. Zwischen Mitgehen oder Sterben wählte er den dritten Weg: Er ging in die Macchia und widmete sich ab da einem Kampf, der seiner sein sollte und nicht der von anderen.
Die Anonymität und die Fähigkeit, sich in den Wäldern unsichtbar zu machen, war die einzige Verteidigung der Partisanen. Um Rückschlüsse auf ihre Familien zu vermeiden, ließen sie sich mit Kampfnamen rufen und schlossen sich Brigaden an, die weit weg von ihren Heimatorten operierten. Er hingegen hatte entschieden, auf seinem Land für sein Land zu kämpfen. Auch der Feind, Enrico Zanarini, der Henker, war in diesen Bergen aufgewachsen. Wie Sfregio hatte er in Griechenland und Albanien gekämpft. Wie Sfregio war er gezwungen worden,
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