Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
sein, um ihn von seinem Posten zu vertreiben.
Schwer atmend blieb er vor Sfregio stehen. Nachdem der alle Fragen unterbunden hatte, lieferte er einen aufgeregten Bericht, wobei er sich immer wieder verhaspelte. Enrico Zanarini hatte seinem schlimmen Ruf alle Ehre gemacht. Im Morgengrauen hatte er den Alten an einem Fenster aufhängen lassen, das auf die Piazza hinausging. Dann hatte er ihm eigenhändig ein Schild mit der Aufschrift »Feind des Faschismus« auf die Brust genagelt und ihm dabei rücksichtslos noch die Rippen gebrochen. Den Hammer in der Hand, hatte er verkündet, dass der Leichnam dort hängen bleiben würde und die Einwohner von Case Rosse unter das Fenster geschleift werden sollten, um ihn ansehen zu müssen, angefangen mit Succis Angehörigen. Das würde sie lehren, was passiert, wenn sie es ihm gegenüber an Respekt fehlen ließen.
»Dieses Mal müssen wir ihn ins Herz treffen«, knurrte Sfregio, als Tabacco mit seinem Bericht zu Ende war. Spontan entwickelte er eine Idee. »Wir lassen die Panzer in die Luft fliegen mit den Granaten, die wir für den Holzschuppen nehmen wollten. Heute Nacht.«
Verblüffung zeichnete sich auf den Gesichtern der anderen ab. Die Panzer, bis zum Herbst noch zur Verteidigung genutzt, standen seither wie eine Art Mahnmal unbeweglich in Case Rosse.
»Wie sollen wir das machen?«, fragte der Professore. »Die Piazza ist quadratisch, vollständig eingerahmt von Gebäuden, und es gibt nur eine einzige Zufahrtsstraße, die Tag und Nacht von den Deutschen überwacht wird.«
»Die Piazza scheint nur für diejenigen abgeriegelt, die noch nie versucht haben, bei Gino eine Salami zu klauen«, erklärte Sfregio, während der eine oder andere nickte, weil er bereits verstanden hatte, worauf er hinauswollte. »Die Osteria hat zwei Fenster, die auf die Außenseite hinausgehen, wir werden den Wirt bitten, sie angelehnt zu lassen. Er und seine Frau Argìa sind auf unserer Seite. Dann braucht man nur noch aus dem Lokal zu treten und steht auf der Piazza.«
»Ich biete mich als Freiwilliger an«, versicherte Briscola, ohne dabei mit dem Mischen eines Stapels abgenutzter Karten aufzuhören. Sfregio legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du wirst dabei sein. Wir werden zu viert sein: ich, der Professore und Tabacco. Ich und der Professore, wir werfen die Granaten in die Panzer. Aber vorher schneidest du zusammen mit Tabacco den Strick des alten Succi durch, und ihr nehmt den Leichnam mit. Er muss der Familie zurückgegeben werden. In diesem Krieg gibt es schon viel zu viele, die unbegraben irgendwo herumliegen und denen niemand mehr den Trost eines Abschieds spenden kann.« Sein Blick verdüsterte sich. Er dachte an seine Brüder Livio und Arrigo, die vielleicht in irgendeiner eisigen Steppe gefallen waren und die niemals ein Grab bekommen würden, an dem man sie beweinen konnte.
»Du vergisst die Wachen«, wandte Assenzio ein. Als Lehrer für Literatur war er der Älteste der Brigade. Er war desertiert, kaum dass er von der Armee in die Repubblica Sociale im Apennin geschickt worden war. Er zog das Wort dem Handeln vor, deshalb hatte er sich als Kampfnamen den eines Likörs gewählt, der die Sinne verfluchter Poeten umnebelte.
»Wir greifen auf unseren Plan mit der Ablenkung zurück. Wir haben nur zwei Granaten und keine Zeit, auf die Lieferungen der Alliierten zu warten. Die brauchen wir für die Panzer, deshalb müssen wir was anderes nehmen«, antwortete er. »Du, Assenzio, zusammen mit Rosso«, er zeigte auf einen rothaarigen Jungen, »ihr besorgt euch einen Karren voll Holz und ein Pferd und fahrt bis zur letzten Kurve der Straße, wo die Wachtposten euch gerade noch nicht sehen können. Wenn wir in die Osteria steigen, geben wir euch ein Zeichen, und ihr legt Feuer. Dann flieht ihr durch den Wald.«
»Das ist aber sehr gefährlich«, meinte Assenzio.
»Das ist mir bewusst, aber wenn wir nichts unternehmen, wird die Gewalt immer schlimmer werden. Wer nicht an der Operation teilnehmen möchte, soll es nur sagen, es wird niemand gezwungen«, schloss Sfregio.
Die Blicke aller Kameraden versicherten ihm, dass niemand einen Rückzieher machen würde. Auch Assenzio nicht.
5
K aum begannen die Schatten der Abenddämmerung zu fallen, trennte Sfregio sich von den anderen. Schweigend betete er für seine Mutter, seine Frau, Renatino und Valerio. Für sie setzte er diesen riskanten Plan in die Tat um, damit ihre Zukunft eine bessere sein würde. Er bedauerte, dass sie keinen
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