Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
eine Wahl zu treffen, aber er entschied sich genau entgegengesetzt. Er wurde erst Republikaner, dann SS -Mann und stieg immer weiter in der Hierarchie auf, indem er die Leute schikanierte, in deren Mitte er aufgewachsen war.
Der Blick verlor sich zwischen den kinderfaustgroßen Sternen. Er dachte an den Professore, den Partisanen, der ihm vorgeworfen hatte, alle aufzuwecken. Ein junger Biologieassistent an der Universität Bologna, ein brillanter Geist, den ein brennender Hass gegenüber denjenigen antrieb, die er – waren sie nun Deutsche oder Italiener – Invasoren nannte.
Sie waren sich sofort sympathisch gewesen, gezwungen, einander zu vertrauen, um zu überleben. Und es war der Professore gewesen, der ihnen vorgeschlagen hatte, sich zu organisieren. »Nur so können wir Leuten die Hoffnung zurückbringen, die schon vergessen haben, was das Wort eigentlich bedeutet«, hatte er eines Sommerabends gesagt, während sie ausgestreckt auf einer Wiese lagen und in den Himmel schauten. »Sie müssen erfahren, dass es noch Leute gibt, die den Mut haben, sich den Invasoren entgegenzustellen. Und da der Feind bekannt ist, ist es unerlässlich, dass auch diejenigen bekannt werden, die ihn herausfordern. Wir brauchen ein Symbol.«
»Ich wette, du hast schon eins im Kopf«, hatte Briscola eingeworfen, der gerade versuchte, im Licht der Öllampe etwas zu schnitzen. Er war einer der Ersten gewesen, die sich zu ihnen gesellt hatten. Seinen Kampfnamen schuldete er seiner Geschicklichkeit bei Kartentricks, mit denen er trotz einer starken Kurzsichtigkeit zu zaubern verstand.
Der Professore war aufgestanden. »Im Krieg verhalten wir uns wie Tiere. Umso wichtiger ist es, sich daran zu erinnern, dass wir Menschen sind. Ich schlage vor, dass wir ein Chromosom als unser Zeichen nehmen.«
Angesichts der fragenden Gesichter seiner Kameraden, von denen viele nicht einmal die drei obligatorischen Volksschuljahre absolviert hatten, hatte er erklärt: »Das sind winzig kleine Fäden, die uns zu dem machen, was wir sind. Sie tragen unsere Zugehörigkeit zur menschlichen Rasse in sich, die Abkunft von unseren Eltern und davor von unseren Großeltern, und noch weiter zurück. Sie enthalten unsere Essenz und unsere Geschichte.«
»Und wie sehen diese Dinger aus?«, hatte jemand skeptisch gefragt.
»Sie ähneln zwei Buchstaben, x und y.«
Briscola, einer der wenigen, der bis zur fünften Klasse gekommen war, war jetzt auch aufgestanden. »Wir wären also so was?«, hatte er gefragt und dem Professore, der ihn um gut eine Handbreit überragte, den Gegenstand hingehalten, den er gerade schnitzte. Das Holzstück einer Zwille, ein perfektes Ypsilon.
So waren sie in einer lauen Sommernacht zu einer Brigade geworden. Es schien allen nur natürlich, dass Francesco Ferri ihr Anführer werden sollte, und er setzte durch, dass sie unabhängig von anderen Partisanengruppen agierten. Der Kampf, den er im Kopf hatte, hatte keine Fahne. Die Brigade Ypsilon kämpfte für die Leute, und damit war es gut.
Wenige Wochen später wurde er zum Comandante Sfregio. Eine Gruppe Deutscher verschleppte zwei Mädchen von nicht einmal achtzehn Jahren. Die Befehlshaber des Kommandos, das sich in Case Rosse niedergelassen hatte, hatten von den Entführern nur verlangt, dass sie die Mädchen an einen einsamen Ort brachten, sodass man von offizieller Seite den Vorfall ignorieren konnte. Die Mädchen wurden in einer Baracke im Wald eingeschlossen, einige Kilometer talabwärts von Case Rosse. Tagelang missbrauchten die Entführer sie; auch einige höhere Dienstgrade waren sich nicht zu schade mitzumachen, einschließlich Enrico Zanarini, der sie sein Leben lang gekannt hatte.
Das Schicksal der Mädchen war besiegelt. Wenn die Deutschen ihrer müde geworden wären, würden sie sie umbringen, falls sie nicht schon vorher durch die Torturen oder bei einem verzweifelten Fluchtversuch zu Tode kämen. Es war nicht das erste Mal, dass so etwas geschah, aber die Brigade Ypsilon beschloss, dafür zu sorgen, dass es das letzte Mal war. Eines Nachts überraschten sie den einzigen Wachtposten des Gefängnisses, entwaffneten und fesselten ihn.
Als Francesco Ferri sah, in welchem Zustand die beiden Mädchen waren, schien es seinen Kameraden, als verlöre er die Beherrschung. Er zog das schwere Messer und trat auf den Wachtposten zu, der zu zittern und um Erbarmen zu flehen begann. Er tötete ihn nicht, sondern schnitt ihm tief ein Ypsilon in die Wange, sodass alle wussten, wer
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