Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
geblieben. Ihnen würden sie mehr nützen.
»Papa … Papa …«, begann Valerio zu rufen. Serena drückte das Kind an sich, um es zum Schweigen zu bringen. Renatino stand neben ihr, vielleicht, um der Mutter, dem Bruder und auch dem Vater Sicherheit zu geben. Es schien, als hätte er verstanden, dass er nun sehr schnell in die Rolle des Mannes in der Familie würde hineinwachsen müssen.
Sfregio ging mit gleichmäßigen Schritten weiter, um niemandem einen Vorwand für eine Reaktion zu liefern. Fünfzig Meter von der Gruppe entfernt blieb er stehen und rief so laut wie möglich: »Ich stelle mich. Lasst die Gefangenen frei.«
Der Henker machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Er konnte dessen leere Augen sehen. Er schrie noch einmal lauter. Als wieder nichts geschah, dachte er, dass seine schlimmsten Befürchtungen Wirklichkeit wurden. Plötzlich jedoch gab Zanarini den Soldaten ein Zeichen, worauf diese den Kreis öffneten. Serena und die Kinder kamen heraus. Sie gingen etwa zehn Meter.
Zanarini nahm das Megafon wieder auf. »Halt! Stehen bleiben! Sonst eröffnen wir das Feuer!«
Die erschreckendsten Gedanken gingen Sfregio durch den Kopf. Sie würden seine Frau und seine Kinder ermorden. Sie würden auf ihn schießen, und seine Lieben müssten zusehen.
»Das glorreiche nazifaschistische Heer respektiert die Vereinbarungen. Sehen wir mal, ob die verräterischen Partisanen es ebenso halten. Komm auf uns zu, jetzt.«
Sfregio überwand die letzten Meter, die ihn von seinen Lieben trennten, ohne den Blick von den schwarzen, eindringlichen Augen seiner Frau zu lassen.
Als er an ihrer Seite war, streichelte er ihr die Wange. Er beugte sich vor und umarmte die Kinder fest, die ihm an den Hals sprangen und ihn mit Küssen überschütteten. Er strich Renatino durchs Haar. Um Valerios krampfhaftes Schluchzen zu besänftigen, griff er in die Tasche und zog die Zwille heraus, die Briscola geschnitzt hatte. »Das ist etwas sehr Kostbares«, legte er ihm ans Herz, »behalte sie immer bei dir, damit du dich an deinen Papa erinnerst.«
Valerio war noch zu klein, um zu verstehen, was diese Worte bedeuteten. Er hörte auf zu weinen und betrachtete den Gegenstand mit großen, verwunderten Augen.
Sfregio richtete sich auf und legte die Hände auf Serenas Schultern. »Nicht weinen«, sagte er zu ihr.
Sie rührte sich nicht, erstarrt, unfähig zu antworten. Also umarmte er auch sie. Er hatte immer gedacht, alles Böse in der Welt ausschließen zu können, wenn er sie umarmte. Er unterdrückte den Wunsch, sich dieser Illusion hinzugeben. Es war noch so viel Wichtiges zu sagen.
»Ich traue diesen Leuten nicht«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Nicht wieder nach Hause gehen. Auch nicht ins Kloster. Geh zu dem Trockenspeicher, in den wir vor dem Krieg immer die Kastanien gebracht haben. Da wirst du meine Kameraden finden. Vertrau dich ihnen an.«
»Beweg dich, oder wir kommen dich holen!«, brüllte Zanarini.
Er löste sich, sah sie an, um sich jede Einzelheit ins Gedächtnis einzuprägen. Die Trennung war herzzerreißend. Die Kinder und die Mutter machten sich auf den Weg ins Dorf, ohne den Blick von Sfregios Silhouette zu lassen, der mit ruhigen Schritten dem Tod entgegenging.
»Ich werde dich immer lieben«, sagte Serena leise zu seinem Rücken.
»Für immer«, wiederholte er, während er dem Henker in die Fratze blickte.
9
E r wurde von einer ganzen Anzahl Bewaffneter in Empfang genommen, die eigens für ihn abgestellt waren. Sie stießen ihn grob in ein Gebäude an der Piazza, das in der faschistischen Ära den vielsagenden Namen Palast des Bürgermeisters bekommen hatte, wo er gefesselt und in ein leeres Zimmer geworfen wurde.
Sie versuchten, ihn zu verhören, aber es war, als wollte man eine Mauer zum Sprechen bringen. Verärgert über sein Schweigen ließen die Folterknechte ihren Zorn an ihm mit Fußtritten und Faustschlägen aus, bis sie ihm schließlich die Hoden quetschten, Mund und Zähne zerschlugen und diverse Rippen brachen. Sie brachen ihm die Finger an den Händen, einen nach dem anderen. Am Ende hob Zanarini den schweren Vorschlaghammer mit dem Eichengriff und ließ ihn mit roher Gewalt auf sein rechtes Bein herabsausen. Er brach es ihm auf Höhe des Schienbeins.
Es war mehr, als ein menschliches Wesen ertragen konnte, ohne verrückt zu werden oder zu sterben.
Comandante Sfregio blieb bei Bewusstsein, bis der 31. Dezember 1944 dem 1. Januar 1945 Platz gemacht hatte. Dann senkte sich endlich
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