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Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)

Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuliano Pasini
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ihm, dass er noch am Leben war. Es gelang ihm nicht, sich darüber zu freuen.
    »Papaaa …«
    Die Stimme im Traum wurde immer lauter. Und schrecklich wirklich. Sfregio zwang seine Sinne dazu, das Bewusstsein wiederzuerlangen. Die Dunkelheit unter der Kapuze wurde unerträglich.
    »Papaaa …«
    Ein Blitz fuhr ihm durchs Gehirn. Das war nicht Valerio, das war Renatino. Und die Stimme gehörte zu keinem Traum.
    Er fing an zu brüllen wie ein Tier in einem Käfig. Für einige Sekunden war sein Klagen der einzige Laut, der zu hören war. Unsichtbare Hände zogen ihm die Kapuze vom Kopf. Das Sonnenlicht, vom Schnee reflektiert, blendete ihn. Die Kälte war in seinen Wunden wie Folter zu spüren. Er blinzelte mit den Augenlidern, zwang die mit Blut bedeckten Augen, sich zu öffnen.
    Er konzentrierte sich auf einen Umriss. Das Schwarz der Uniform befleckte die Makellosigkeit des Schnees. Der Henker fixierte ihn mit leerem Blick. Als er bemerkte, dass er bei Bewusstsein war, fing er an, betont langsam von einem Blatt abzulesen, das er in der Hand hielt. Unter den Arm hielt er eine Reitpeitsche geklemmt.
    »Heute, am 1.   Januar 1945, kraft der uns vom Führer des Dritten Reiches übertragenen Gewalt und in Übereinstimmung mit dem Kriegsrecht, verurteilen wir Ferri Francesco zum Tod durch den Strang wegen Hochverrats …«
    Sfregio berührte es nicht, sein Urteil zu hören, und ebenso wenig, wie es ausgeführt werden sollte. Er musste herausfinden, woher Renatinos Stimme kam. Wild drehte er den Kopf von rechts nach links, wodurch der Draht in seine Haut eindrang. Frische Blutstropfen kamen zu denen hinzu, die aus den anderen Wunden quollen.
    Er erkannte formlose Flecken auf dem Schnee, hörte aber, abgesehen von der lauten Stimme Zanarinis, keine weiteren Stimmen.
    »Für den Mord an zwei in Case Rosse stationierten deutschen Soldaten, nach dem Erlass Feldmarschall Kesselrings vom 12.   August 1944, werden weitere neunzehn Kriminelle sterben, ausgewählt …«
    Bei diesen Worten nahm die Welt wieder Konturen an. Die Flecken auf dem Schnee waren Menschen, die in einem Halbkreis um seinen Galgen aufgereiht waren.
    Kniend. Geknebelt. Die Hände auf dem Rücken gefesselt.
    Im Rücken eines jeden stand ein bewaffneter Deutscher. Mit Entsetzen erkannte er Veronica, mit Entsetzen sah er Serena. Und seinen Bruder. Und die Schwestern. Und die Schwiegertöchter. Seine Tante. Seinen Onkel. Und Renatino, den Einzigen ohne Knebel. Offensichtlich ein sadistischer Einfall Zanarinis, um ihn die Rufe seines Sohnes hören zu lassen.
    Er fand noch einmal die Kraft zu schreien: »Lasst sie in Ruhe! Nur ich! Nur ich soll sterben!«
    Der Henker lachte höhnisch, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er ging die wenigen Schritte, die ihn vom Podest des Galgens, dem Haufen aus Heubunden, getrennt hatten, und stieg hinauf. Mit einer raschen Handbewegung, als könnte Sfregio sich in irgendeiner Form zur Wehr setzen, nahm er das Gesicht des Partisanen zwischen die Hände und drehte es.
    »Sieh nur, was du angerichtet hast. Das ist alles ganz allein deine Schuld.« Die Stimme war vollkommen gefühllos. »Du wirst sie sterben sehen. Wir betätigen den Abzug, aber der Mörder bist du.«
    Kaum ließ Zanarini ihn los, spuckte Sfregio ihm einen Klumpen Speichel und Blut ins Gesicht.
    »Eines Tages wirst du erleiden, was ich erleide!«, schrie er ihn mit letzter Kraft an, erfüllt von einem Hass, den er nicht für möglich gehalten hätte. Wild riss er an den Fesseln in seinem Rücken, ohne auf den Schmerz zu achten.
    Der Henker hatte schon zu viele Menschen hingerichtet, um sich um die Flüche zu scheren, die ihm im Augenblick des Todes entgegengeschleudert wurden. Er wandte sich zu den Soldaten um, als sei nichts gewesen.
    »Weitermachen!«, befahl er.
    Die Deutschen zogen in perfektem Gleichmaß die Bajonette. Sie hoben die Gesichter der Menschen an, die vor ihnen knieten. Unter von Knebeln ersticktem Stöhnen und übertönt von einem einzigen langen Schrei Renatinos, schlitzten sie jedem ein Ypsilon in die Wange.
    Zanarini schritt die Reihe der Verurteilten ab. »So wisst ihr, wer für euer Ende verantwortlich ist.«
    Während sie gezeichnet wurden, gab Serena keinen Laut von sich. Sie hielt die tiefgründigen dunklen Augen fest auf Sfregios Augen gerichtet. In diesem Blick fand er die ganze Liebe und das Verständnis einer Frau. Seiner Frau. Und den Schmerz einer Mutter.
    Verärgert über das Schweigen der Frau, blieb der Henker vor ihr stehen.

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