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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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würden. Christelles Vater Franck Rolland wurde als »Frührentner« beschrieben. Annick betrachtete die zerfurchten Wangen und den melancholischen Blick auf dem Bild in der Zeitung. War es der Tod der Tochter, der seine Gesundheit zerstört hatte? Ungelöste Morde waren Wunden, die niemals heilten, dachte sie, eitrige offene Wunden, die ihr Gift jahre- und jahrzehntelang in die Umgebung pumpten.
    Sie war recht zufrieden damit, daß sie an ihrem Arbeitsplatz über ihre Vergangenheit gesprochen hatte. Daß der ganze zweite Stock darüber reden würde, damit hatte sie gerechnet, ebenso, daß sie mit Pfiffen, geschmacklosen Witzen und ganz neuen Blicken der männlichen Kollegen konfrontiert sein würde. Sie war sich ihrer Rolle als Kriminalpolizistin ausreichend sicher, um sich nicht mehr verstecken zu müssen. Sie sah auf die Uhr. Die Journalisten, die auf der PR-Reise der Gemeinde für die Kulturstadt Villette dabei gewesen waren, hatten in diesem Hotel gewohnt, und nachdem sie eine Weile mit dem Hoteldirektor diskutiert hatte, hatte sie eine Liste mit den Zimmernummern sämtlicher Journalisten bekommen. Darauf hatte sie die sechs angekreuzt, die auch an dem Treffen 1982 teilgenommen hatten. Nachdem sie mit Christian de Jonges Segen die einzige Frau in der Gruppe, eine zweiundsechzigjährige Holländerin, gestrichen hatte, war sie zum Hoteldirektor zurückgekehrt und hatte ihn gebeten, sie mit den Frauen sprechen zu lassen, die für die beiden Korridore, wo ihre fünf denkbaren Verdächtigen gewohnt hatten, verantwortlich gewesen waren.
    Eine große Frau in schmuckem, marineblauem Kostüm kam auf sie zu.
    – Inspektor Dardenne? sagte sie und streckte die Hand aus. Ich bin Louise Bouvin, die Hausmutter hier im Hotel.
    Ihr Handschlag war fest und kühl. Sie war in den Vierzigern und trug eine Brille mit kräftiger dunkler Fassung.
    – Sie wollen die Mädchen treffen, die in der ersten und zweiten Etage putzen, habe ich gehört, sagte sie.
    – Ich will die treffen, die dort letzten Freitag und Samstag geputzt haben, korrigierte Annick.
    – Wir werden sehen, sagte Louise Bouvin, Sie könnten Glück haben.
    Annick ging mit ihr aus dem Speisesaal in die Lobby, wo bronzefarbene Kronleuchter mit geätztem Glas von der hohen, gewölbten Decke hingen. Vom Empfangsschalter gegenüber den Glastüren des Entrees hatte man sicher einen guten Blick auf alle, die kamen und gingen, aber es gab vermutlich andere Ausgänge, dachte sie.
    Zu beiden Seiten des Empfangs schwangen Treppen mit grazilen schmiedeeisernen Geländern in eleganten Bögen hinauf in den ersten Stock. Louise Bouvin ging unter die linke Treppe und öffnete eine Tür, die in die hinteren Regionen des Hotels führte, wo die Jugendstilranken, das polierte Holz und der Marmor von Lobby und Speisesaal Linoleumböden und Korridoren mit niedrigen Decken und puritanisch weißgestrichenen Wänden gewichen waren. Ein Hotel war wie ein Theater, dachte Annick, die Räume, die die Gäste sahen, waren mit ihren Kronleuchtern und Blumen die Bühne, auf der die Vorstellung stattfand, während viele unsichtbare Hände hinter der Bühne die Maschinerie bedienten. Oder wie eine Modevorführung mit Chaos und Nerven und Tränen hinter der sorgfältig choreographierten Vorführung auf dem Laufsteg.
    Louise Bouvins Büro war ein fensterloser Verschlag mitabgenutztem Schreibtisch, vermutlich aus einem der Gästezimmer ausrangiert. Ein komplizierter Plan mit einer Reihe von Namen und Markierungen in Rot, Gelb und Grün war mit Reißzwecken über dem Schreibtisch befestigt.
    – Jetzt wollen wir mal sehen, sagte Louise Bouvin, ja, Marie-Lou Nawezi hatte Freitag und Samstag Etage eins, und sie ist jetzt hier. Aber Marta Furtado, die die zwei hatte, hat heute frei. Sie können ihre Telefonnummer haben, wenn Sie wollen.
    Annick schrieb die Telefonnummer der abwesenden Marta Furtado auf und folgte dann der Hausmutter in einen blanken und neuen Lift, der so eng war, daß zwei normalgroße Personen nur mit Mühe Platz darin fanden.
    Sie stiegen in einem dunklen Blinddarm von Korridor im ersten Stock aus dem Lift. Eine junge Frau in blauweißgestreiftem Kittel kam gerade mit einem Wagen, beladen mit sauberer Wäsche und einem Sack für Schmutzwäsche, angefahren. Sie lächelte sie mit fragendem Blick an. Ihre Zähne leuchteten weiß gegen die dunkle Haut.
    – Das hier, Marie-Lou, ist Kriminalinspektor Dardenne, die Ihnen ein paar Fragen stellen will, die Sie bitte so genau wie möglich

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