Die toten Mädchen von Villette
die Putzfrau und trat vor Annick wieder auf den Korridor. War es Zimmer 212, was Sie jetzt interessiert?
Sie blieb vor dem Zimmer drei Türen weiter stehen und fing an, vor sich hinzulachen.
– Ja, klar, an dieses Zimmer erinnere ich mich. Ich kam auch hierher, da war es wohl eher viertel vor zehn. Keiner antwortete, als ich anklopfte, also ging ich rein, und da lagen sie auf dem Bett, vollauf miteinander beschäftigt und ohne einen Faden am Körper!
Annick lächelte.
– Damenbesuch auf dem Zimmer? Oder vielleicht Herrenbesuch?
– Das war schon ne Frau, die ihn besucht hat, sagte Marie-Lou Nawezi munter, die hatte Titten wie Melonen. Es war mir natürlich peinlich, und ich habe gemurmelt, daß ich gekommen bin, um die Laken umzuklappen. »Danke, das schaffen wir selbst«, hat er gesagt, mit einer Seelenruhe. Und sie war genauso ungerührt, sie hat mich gebeten, dasTablett vom Zimmerservice mitzunehmen und das »Don’t disturb«-Schild aufzuhängen, als ich rausging.
Sie schüttelte den Kopf und kicherte wieder bei der Erinnerung.
Das bedeutete vermutlich, daß Stefan Schumann von der Liste gestrichen werden konnte, dachte Annick. Ein Schritt vorwärts, wenn auch von der negativen Sorte.
– Hatten sie also auf dem Zimmer gegessen? fragte sie, und die Putzfrau nickte.
– Ja, es waren Teller und Besteck auf dem Tablett, das ich mit rausnahm.
Sie müßte natürlich herausfinden, ob eine der übrigen Personen, an denen sie interessiert war, während des Abends etwas aufs Zimmer bestellt hatte, dachte Annick. Wer gegen Mitternacht ein belegtes Brot oder ein Bier bestellt hatte, war nicht gleichzeitig unten am Fluß gewesen, um Teenager zu ermorden.
Marie-Lou Nawezi erklärte, wo sie den Zimmerservice-Chef des Hotels finden konnte, und begleitete sie zu dem kleinen Personallift. Annick zögerte mit dem Finger auf dem Liftknopf – sie hatte das Gefühl, daß die junge Frau über etwas nachdachte, etwas, wovon sie nicht wußte, ob sie es sagen sollte.
– Ist Ihnen noch etwas eingefallen, fragte sie nonchalant.
Es war deutlich, daß Marie-Lou zögerte.
– Ja, sagte sie schließlich, da war diese Geschichte mit der Flasche Champagner. Ich habe zuerst gedacht, daß Sie deswegen hergekommen sind, aber wenn Sie nichts davon wissen … Ich weiß nicht, es ist vielleicht etwas, das Sie wissen sollten.
Eine Flasche Champagner? Annick spürte, wie ihr Herzrascher schlug. Der Mörder hatte zu seinem Treffen mit Sabrina Deleuze Champagner mitgebracht. Das hier konnte ein wirklicher Anhaltspunkt, ein Durchbruch in der Mörderjagd sein.
– Marie-Lou, sagte sie, das hier kann außerordentlich wichtig sein. Können wir uns irgendwo hinsetzen und reden? Es tut mir leid, wenn Ihre Pause darunter leidet, aber es geht darum, einen Mörder zu finden, wie Sie selber gesagt haben.
– Ja, wenn das so ist, sagte die Putzfrau, Sie können zum Personalraum mitkommen, dann können wir reden, während ich etwas esse.
Sie fuhren zu der Ebene unter dem Erdgeschoß hinunter. Der Personalraum war ein länglicher Raum mit drei niedrigen Fenstern ganz oben an der Wand, die auf eine dunkle Gasse hinausgingen. Er war mit diversen Sofas, Sesseln und Tischen möbliert.
Marie-Lou nahm ein Butterbrotpaket und eine Coca-Cola aus einem Kühlschrank, der an einer Wand stand. Sie ließen sich auf zwei rosagestreiften Lehnstühlen mit abgenutztem Bezug nieder. Marie-Lou Nawezi öffnete ihre Cola und packte ihr belegtes Brot aus.
– Jaja, der Champagner, sagte sie. Ja, es war so, daß die, die auf diesem Korridor wohnten, die waren von der Gemeinde auf diese Reise eingeladen worden, und die hatten jeder einen Präsentkorb mit Obst und Schokolade und so was aufs Zimmer gekriegt. Ich weiß nicht, wer das bezahlt hat. Und in diesem Korb war auch eine Flasche Champagner, richtiger Champagner, eine der feinen Marken. Und am Nachmittag, es war wohl gegen sechs, kam die Hausmutter und sagte, sie wolle mit mir sprechen. Sie hat es so gesagt, daß ich begriffen habe, daß ich in der Klemme sitze.Wir sind in ihr Büro gegangen, und sie hat mich fixiert und gesagt, daß sich einer der Gäste darüber beschwert hätte, daß die Flasche Champagner aus seinem Zimmer verschwunden wäre, und ich wäre die einzige gewesen, die da drin war. Sie ist ein richtiger Drachen, diese Bouvin, traut den Mädchen immer das Schlimmste zu.
Marie-Lou Nawezi verstummte und biß in ihr belegtes Brot. Die Erinnerung an den Verdacht der Hausmutter sorgte dafür, daß sich
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