Die toten Mädchen von Villette
der Krieg vorbei war. Bei ihm bekam Roger einen Job als eine Art Laufbursche und Gehilfe.
Aber eines Tages, als ich von der Arbeit nach Hause kam, war er beim Packen. Er erzählte, daß er einen Brief von seiner Tante, der Schwester seiner Mutter, bekommen hatte. Sie hatte ihn über das Gericht geschickt. Da konnte ich mich an sie erinnern, sie war einmal zu Besuch gekommen, als ich bei Maurice de Wachter gearbeitet habe, aber esblieb bei diesem Besuch. Sie kamen nicht so gut miteinander aus, sie und Maurice. Aber jetzt schrieb sie, daß Roger bei ihr und ihrem Mann ein Zuhause finden könnte. »Ich kann ja nicht hier in Brüssel bleiben, und das hier ist wohl die beste Chance, die ich bekommen kann«, sagte er.
Er nahm am Tag darauf den Zug nach Paris. Ich begleitete ihn zur Gare du Midi und winkte zum Abschied. Ich habe ihm übrigens auch Geld für die Fahrkarte geliehen, aber das habe ich nie zurückbekommen. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Aber ich sehe ihn immer noch vor mir, so wie bei diesem letzten Mal, als er im Kohlenstaub und im Rauch von der Dampflok in den Zug stieg. Er hatte einen billigen Reisekoffer aus Pappe dabei und ein fadenscheiniges Sakko mit zu kurzen Ärmeln, und die ungeschnittenen Haare hingen ihm in die Augen. Ich dachte an Maurice de Wachters Bentley und seine maßgeschneiderten Anzüge und Seidenhemden, und ich dachte, ja, jetzt leben wir wirklich in einer neuen Welt, und die wird viel besser als die alte.
– Aber Roger de Wachter hat Ihnen leid getan? fragte Philippe.
– Ja und nein, sagte Huguette Morin, mir tat das Kind leid, das ich früher gekannt habe, ich wußte, wie schwer er es gehabt hatte. Aber viele haben es schwer gehabt, und schließlich müssen wir doch alle unsere eigenen Entscheidungen im Leben treffen. Dies waren Jahre, in denen wir alle vor Entscheidungen gestellt wurden, bei denen es um Leben und Tod ging. Ihre Mutter traf ihre Entscheidung, Simone ihre, und ich glaube, Roger traf auch seine. Und er war kein Kind mehr, als ich ihm auf der Gare du Midi zum Abschied winkte, war er siebzehn, fast ein Mann, fanden wir damals.
– Es kann schnell passieren, daß man sich für den falschen Weg entscheidet, sagte Philippe, und dann ist es schwer, zurückzukehren.
Huguette Morin betrachtete ihn forschend.
– Ja, sicher ist es so, sagte sie. Ich kann mir vorstellen, daß Roger in einem Augenblick des Zorns gegenüber Simone zu seinem Vater ging und erzählte, was er wußte, und daß er damit etwas ins Rollen brachte, das nicht mehr aufzuhalten war. Es kann ja sein, daß er es bereut und Buße getan hat, indem er den Rest seines Lebens als ein guter Mensch gelebt hat. Aber darüber weiß ich nichts, wie gesagt.
– Wissen Sie überhaupt nichts, fragte Philippe, zum Beispiel, wie diese Tante hieß?
– Sie war mit einem französischen Offizier verheiratet, sagte Huguette Morin, er hatte eine ziemlich hohe Position in den freien französischen Streitkräften, erzählte Roger. Und ich habe sie damals kennengelernt, als sie zu Besuch kam. Wie hieß sie noch? An den Nachnamen erinnere ich mich nicht, aber der Vorname war etwas ungewöhnlich, wie war der noch mal. Doch, ich erinnere mich – sie hieß Philomène! Sie sah ziemlich alltäglich aus, obwohl sie schöne Augen hatte, aber was auffiel, war, daß sie an der linken Hand nur vier Finger hatte, der kleine Finger war weg.
– Wohnten sie in Paris? fragte Philippe.
Huguette Morin schüttelte den Kopf.
– Nur vorübergehend, Roger sagte, sie würden später in die Kolonien aufbrechen. Er war richtig aufgelebt bei dem Gedanken, Afrika sehen und Abenteuer in exotischer Umgebung erleben zu können. Er las immer gern Tim und Struppi, als er noch ein Kind war, Tim und Struppi kam ja in Le Soir, als der während des Krieges deutschfreundlich war.
– Wissen Sie, wohin in Afrika sie wollten? fragte Philippe gespannt.
– Algerien, glaube ich, sagte die alte Dame, aber ich bin nicht sicher. Frankreich hatte ja in dieser Zeit viele Kolonien in Afrika.
Philippe überlegte. Es war zumindest theoretisch denkbar, daß Roger de Wachter zurückgekommen war und getötet hatte, um ein Verbrechen zu verbergen, daß er während des Krieges begangen hatte. Und Eric Janssens hatte als Kind Roger de Wachter gekannt. Konnte er ihn wiedererkannt haben?
– Wie sah er aus? fragte er, Roger de Wachter, meine ich.
– Er ähnelte seinem Vater, sagte Huguette Morin, groß und dunkel, ein hübscher Junge war er, als ich ihn das
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