Die toten Mädchen von Villette
letzte Mal sah.
Philippe fiel ein, was Giovanni Weiss erzählt hatte. Eric Janssens hatte einen Geistesblitz gehabt, als er »Die Thibaults« las. Konnte sich Huguette Morin das erklären?
– »Die Thibaults«, sagte sie nachdenklich, als er gefragt hatte, ja, sicher erinnere ich mich daran. Roger Martin du Gard hatte kurz bevor ich zur Familie de Wachter kam, den Nobelpreis bekommen, und er wurde viel gelesen. Roger fing Anfang 1942, als er dreizehn war, an, »Die Thibaults« zu lesen, er hat den Roman förmlich verschlungen. Und er hatte alle Bände in diesem Pappkoffer bei sich, als er abreiste, er gehörte zu den wenigen Dingen, die er von zu Hause mitnahm. Haben Sie ihn gelesen?
Philippe nickte.
– Ich glaube, sagte sie, daß Roger sich mit dem Helden des Romans identifizierte, Sie wissen, der jüngere rebellische Bruder in der Familie Thibault, der gegen seinenstrengen Vater revoltiert. Es geht ja um zwei Familien, die durch die Religion getrennt werden, und dieser jüngere Sohn ist verliebt in die Tochter in der anderen Familie. Ich glaube, Roger sah es als eine Parallele zu sich und Simone. Übrigens, apropos Nobelpreis, wissen Sie, wer David ist? Simones David? Sie haben so fragend geschaut, als ich seinen Namen nannte, als kennten Sie ihn gar nicht.
Philippe gab zu, daß er von einem David Mendel noch nie gehört hatte, und Huguette Morin strahlte ihn an.
– Das ist doch der Nobelpreisträger David Mendel! Er ging zur Physik über, als er nach dem Krieg in die USA zog, und er teilte 1989 den Nobelpreis in Physik mit zwei anderen, fragen Sie mich nicht, wofür er ihn gekriegt hat, das war für mich vollkommen unbegreiflich. Aber er lud mich nach Stockholm ein, er sagte, ohne mich hätte er nicht überlebt und den Nobelpreis nicht bekommen können. Hätte Renée noch gelebt, hätte er sie auch eingeladen, aber es war ja leider zu spät. Aber es stand damals viel in unseren Zeitungen, er ist Professor in Harvard.
Philippe dachte düster, daß es nicht besonders überraschend war, daß er die Artikel über David Mendels Großtaten verpaßt hatte. 1989 war das schlimmste Jahr seines Lebens gewesen. Er war so am Ende gewesen, daß er nicht einmal bemerkt hatte, daß die Berliner Mauer fiel.
– Und meine Mutter, sagte er, haben Sie sie nach dem Krieg wiedergesehen?
Huguette Morin sah traurig aus.
– Ja, ich hörte, daß sie zurückgekommen war, im Juli 1945 kam sie heim nach Uccle, und ich war da und habe sie besucht. Aber sie war so verändert, daß es eine Qual war, sie zu sehen. Sie weinte nur, wenn sie mich sah, denn dann mußte sie an Simone denken. Ich glaube, sie hatte einschlechtes Gewissen, weil Simone tot war, während sie überlebt hatte. Wir haben uns nie wiedergesehen.
Annick Dardenne saß im Speisesaal des Luxushotels der großen französischen Hotelkette drei Blocks von der Grande Place entfernt. Sie hatte sich vorgenommen, im Hotel spät zu frühstücken, statt nur die Tasse Kaffee zu trinken, die sie morgens zu Hause zu sich nahm, war aber blaß geworden, als sie den Preis des Frühstücksbüfetts gesehen hatte, und hatte sich mit einer bescheidenen Tasse Cappuccino und einem Glas Orangensaft begnügt.
Das Gebäude war neu renoviert, und die Jugendstilranken im Dekor an den salbeigrünen Wänden des Speisesaals waren frisch wie an dem Tag, als sie gemalt wurden. Das Hotel war vor der Johannisprozession voll belegt gewesen, und die letzten Nachzügler am Büfett schienen meist ausländische Touristen zu sein, die sich am Zeitungsregal für die International Herald Tribune und die Financial Times entschieden.
Annick dagegen nahm sich eine Zeitung von dem Stapel mit der Gazette de Villette. Der Dreifachmord dominierte nach wie vor die Nachrichtenseiten der Lokalzeitung, mit der Freilassung von Jean-Pierre Wastia als Spitzenmeldung. Auf Seite drei las sie, daß Bruno Wastias Autofirma zum zweiten Mal verwüstet worden war. Der Fotograf der Zeitung war kurz nach dem Anschlag dagewesen. Annick war unangenehm berührt von den Bildern zerschlagener Scheiben und Autos, auf die gehässige Botschaften gesprayt worden waren – »Mörder«, »Zigeunerschwein«.
Die Zeitung lieferte auch eine Fortsetzung zu dem Artikel über die Verbindung zum Christelle-Mord, indem sie ein Interview mit Christelles Eltern brachte, einemabgearbeiteten Paar mittleren Alters, das den frommen Wunsch äußerte, daß die Fragen, die sie zwölf Jahre lang gequält hatten, jetzt endlich ihre Antwort bekommen
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