Die toten Mädchen von Villette
nachdenklich aus. Sie hatte ein ausdrucksvolles Gesicht, das während ihrer langen Erzählung die wechselnden Gefühle, die von ihren Erinnerungen geweckt worden waren, gespiegelt hatte. Sie nahm einen Schluck Kaffee und schnitt eine Grimasse.
– Der ist ja völlig kalt!
Sie fing den Blick der Serviererin auf und zeigte auf ihre Tasse, um einen neuen Kaffee zu bestellen.
– Wer die Mädchen angezeigt hat, sagte sie, ja, darüber habe ich viel nachgegrübelt, wie Sie verstehen. Ich würde gern sagen, es war Maurice de Wachter, aber es fällt mir etwas schwer, das zu glauben, zumindest, daß er es allein war. Ganz einfach deshalb, weil Simone in seinen Augen keine Person war, die der Aufmerksamkeit wert war. Er wußte, daß es sie gab und daß sein Sohn sie gern hatte, aber ein Mädchen, ein Teenager, stand viel zu weit unter ihm, als daß er auch nur denken konnte, daß sie eine Rolle spielen könnte. Raymond verabscheute er, besonders nach dieser Geschichte mit den Immobilienverkäufen, aber Simone? Sie existierte nicht für ihn.
Dagegen hatte ich immer den schleichenden Verdacht, daß Roger mit der Gestapo-Razzia etwas zu tun hatte. Es ist schrecklich, so zu denken, ich hatte ja Verantwortung für ihn, als er klein war, aber ich habe den Gedanken nie abschütteln können. Es passierte etwas, wissen Sie, zwischen ihm und Simone. Er war 1943 vierzehn, und er hatte Simone vergöttert, seit er neun war, und es war wohl unvermeidlich, daß er sich in sie verlieben würde.
Sie machten eines Tages einen Ausflug, nur er undSimone, und als sie zurückkamen, hatte er ganz finstere Augen, das habe ich gesehen, ich kannte ihn ja. Ich fragte Simone, ob etwas passiert sei, und sie zuckte die Achseln und lachte ein bißchen und sagte: »Ach was, es war nichts. Der kleine Roger wird nur langsam groß, aber darum muß man sich nicht kümmern.« Aber danach war es nie mehr dasselbe zwischen ihm und Simone, und ein paar Monate später kam die Razzia.
– Sie glauben also, daß es Roger de Wachter war, der Maman und Simone angezeigt hat? sagte Philippe.
Huguette Morin sah ernst aus.
– Es ist schrecklich, das über jemanden zu sagen, aber Gott helfe mir, ich habe es immer geglaubt. Nicht daß er es allein getan hat, aber daß er Maurice erzählt hat, was die Mädchen unternahmen. Er hing da ja immer herum und sah, was sie machten, und hörte, wenn sie miteinander redeten.
– Was passierte dann, fragte Philippe, mit Maurice und Roger de Wachter und mit Ihnen?
– Ja, sagte sie, es gibt wohl nicht mehr sehr viel zu sagen. Ich konnte ja nicht in Janssens’ Villa bleiben, aber es gelang mir, Arbeit in einer Wäscherei nicht weit von dort zu finden, und ich mietete ein Zimmer bei einer Witwe. Aber ich behielt die Herren de Wachter weiter im Auge, und so hörte ich, daß sie direkt, bevor Brüssel im September 1944 befreit wurde, nach Deutschland aufgebrochen waren. Aber Maurice war bekannt und gesucht, und er wurde irgendwo an der deutschen Grenze festgenommen. Später wurde er wegen seiner Aktivitäten während des Krieges vor ein Kriegsgericht gestellt. Der Prozeß begann im Herbst 1945, und er wurde zum Tode verurteilt. Dann wurde er 1947 hingerichtet.
Huguette Morins bewegliches Gesicht war jetzt hart und verschlossen.
– Und sein Sohn? fragte Philippe vorsichtig. Sie seufzte.
– Ja, das war mein Dilemma. Er tat mir leid, ich hatte ihn ja gekannt, seit er ein Kind war, und er hatte niemanden auf der Welt, an den er sich halten konnte. Gleichzeitig hatte ich den Verdacht, daß er Simone und Renée und Raymond verraten hatte, und empfand deswegen Ekel vor ihm. Ich habe ein paarmal bei der Gerichtsverhandlung zugehört, und da habe ich mit Roger geredet und ihn gefragt, ob ich etwas für ihn tun könne. Maurice de Wachters Vermögen war beschlagnahmt worden, und Roger wohnte in einem billigen Hotel in Ixelles, aber schließlich ging ihm das Geld aus, und da sagte ich, daß er bei mir wohnen könne, bis er Arbeit gefunden habe. Ich sagte meiner Vermieterin, er sei mein Cousin, und dann schlief er ein paar Wochen auf einer Matratze in meinem Zimmer. Das war, nachdem Maurice zum Tode verurteilt worden war. Roger besuchte ihn ein paarmal in der Woche im Gefängnis, wo er in der Todeszelle saß.
Jedenfalls gelang es mir, ihm einen Job zu besorgen. Die Vermieterin hatte einen Bruder, ein Fotograf mit eigenem Atelier, und der hatte viel zu tun. Es gab viele, die schöne Familienfotos machen lassen wollten, um zu feiern, daß
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