Die toten Mädchen von Villette
wird.
Agnes lächelte.
– Ja, dann, sagte sie, dann ist es das beste, ich ziehe ein Sakko an, damit ich offizieller aussehe.
Eine Handvoll Journalisten hing in der Eingangshalle des Krankenhauses herum und stürzte, mit Mikrofonen, Kassettenrekordern und Notizblöcken bewaffnet, auf Martine zu. Ein Radioreporter war zuerst da.
– Madame Poirot, sagte er, der junge Mann, der früher des Dreifachmordes in Villette verdächtigt wurde, ist heute mißhandelt worden und liegt hier im Krankenhaus. Haben Sie einen Kommentar zu dem Überfall?
– Nicht zu dem Überfall, sagte Martine, ich weiß noch nicht, wer ihn überfallen hat und warum. Aber ich befürchte, daß es die Suche nach Nadias, Peggys und Sabrinas Mörder erschweren wird, weil der junge Mann, seit der Verdacht gegen ihn ausgeräumt wurde, einer unserer wichtigsten Zeugen ist. Das ist sehr schlecht. Und es ist natürlich noch schlimmer, wenn er von jemand mißhandelt worden ist, der glaubt, die Gerechtigkeit in die eigenen Hände nehmen zu müssen.
– Meinen Sie, daß jetzt kein Verdacht mehr gegen ihn besteht? fragte der Radioreporter.
– Keiner, sagte Martine bestimmt.
– Aber was machen Sie dann hier, fragte Nathalie Bonnaire sanft, ich meine, die Mißhandlung ist ja nicht Ihr Fall? Sind Sie vielleicht hier, um Ihre reguläre Rechtspflegerin zu unterstützen, die ja mit dem jungen Mann nahe verwandt ist?
Martine starrte die Reporterin an und schenkte Agnes’ Voraussicht einen Gedanken der Dankbarkeit.
– Natürlich nicht, sagte sie ebenso sanft, ich bin hier in meinem Auftrag als Untersuchungsrichterin, um an Ort und Stelle in Erfahrung zu bringen, ob der junge Mann nach der Mißhandlung fähig ist, als Zeuge auszusagen. Die Morduntersuchung ist auf dem Weg in eine kritische Phase,und ich hatte vorgehabt, Monsieur Wastia heute zur Vernehmung zu bestellen.
– Meinen Sie, Sie sind auf dem Weg zu einem Durchbruch bei der Mörderjagd? fragte ein Fernsehreporter eifrig.
– Keine weiteren Kommentare heute, sagte Martine bestimmt und bahnte sich zwischen den Reportern einen Weg zu Agnes, die inzwischen in Erfahrung gebracht hatte, wo sie Jean-Pierre Wastia finden konnten.
– Ob Sie mit dem jungen Wastia reden können, sagte der abgehetzte Arzt, der sie im Krankenhauskorridor empfing, ja, Sie können es versuchen. Offenbar hat jemand dem Jungen mehrere Male mit einem Brett auf den Kopf geschlagen, und er hat eine ordentliche Gehirnerschütterung, aber wir glauben, daß er es ohne Blutungen im Gehirn überstanden hat. Allerdings muß er zur Beobachtung über Nacht hierbleiben. Außerdem hat ihm jemand mehrere Rippen eingetreten, er hat ziemliche Schmerzen.
– Aber kann ich ihm ein paar Fragen stellen? sagte Martine.
– Solange Sie ihn nicht unter Druck setzen, sagte der Arzt warnend, das dürfen Sie auf keinen Fall tun.
Jean-Pierre Wastia saß halb aufrecht im Krankenhausbett, den Oberkörper fest umwickelt, um den Kopf eine Bandage. Seine Lippen waren geschwollen, und eine dunkle Röte um das rechte Auge war dabei, in Blau überzugehen, aber er schien in besserer Laune zu sein als beim letzten Mal, als Martine ihn gesehen hatte.
Er richtete sich auf und grinste ihr zu.
– Guten Tag, Madame Poirot, haben Sie den Mörder schon gefunden? bekam er zwischen den geschwollenen Lippen heraus. Dann sank er sofort zurück in die Kissen und schloß die Augen.
Julie saß auf einem Stuhl neben dem Bett, den Blick fest auf ihren Cousin gerichtet. Sie sah deprimierter aus als er. Sie hatte dasselbe ärmellose zitronengelbe Seidenkleid an, das sie am Freitag getragen hatte, aber der weite Rock hing zerknittert zum Boden, und das Kleid hatte Blutflecken am Saum und auf Taillenhöhe.
– Hallo, Martine, hallo, Agnes, sagte sie matt und wandte ihnen den Blick zu, als sie im Zimmer standen, was habe ich gesagt?
Sie sah, daß Martine die rostbraunen Flecken an ihrem Kleid betrachtete, und zog in einer Grimasse, die mit ihrem gewöhnlichen Lächeln nicht viel gemeinsam hatte, die Mundwinkel hoch.
– Erinnert stark an Jacqueline Kennedy nach den Schüssen in Dallas, oder? Ich glaube, ich werde es nicht waschen, sondern als Erinnerung aufbewahren.
Martine wußte nicht, was sie zu Julie sagen sollte. Sie machte einen Schritt näher an das Bett heran und wandte sich an Jean-Pierre.
– Guten Tag, Jean-Pierre, sagte sie, ich möchte dir ein paar zusätzliche Fragen stellen. Glaubst du, du bist imstande zu antworten? Es ist wichtig.
Er setzte sich wieder
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