Die toten Mädchen von Villette
den Mädchen dorthin gekommen sein, er mußte mit seinem Champagner und seinem Picknickkorb auf Sabrina gewartet haben. Vielleicht hatte er den späten Bus vorbeifahren sehen und sich gefragt, warum sein auserwähltes Opfer nicht auftauchte.
Es waren exakt siebenhundertdreiundachtzig Meter von der Bushaltestelle zu dem Ort, wo die Mädchen ermordet worden waren, und wenn Sabrina den Bus erreicht hätte wie geplant, hätte er sie wenige Minuten später am Straßenrand entlangkommen sehen, vielleicht wäre er ihr entgegengegangen.
Hatte man die Busfahrgäste gefragt, ob sie etwas an der Straße gesehen hatten, oder nur mit ihnen geredet, um sich zu vergewissern, daß die Mädchen den letzten Bus verpaßt hatten?
Plötzlich fiel ihr ein, daß es eine Person gab, die den Mörder, als er am Fluß stand und wartete, definitiv passiert haben mußte. Jean-Pierre Wastia hatte die Mädchen an der Abzweigung aussteigen lassen, wütend das Gas durchgetreten und war gleich darauf am späteren Tatort vorbeigefahren. Martine hatte Jean-Pierre Wastia verhört, um festzustellen, ob er schuldig war oder nicht, und deshalb hatte sie überhaupt nicht daran gedacht, ihn danach zu fragen, was er gesehen hatte, nachdem er die Mädchen zurückgelassen hatte. Aber es war ja nicht zu spät. Sie würde Jean-Pierre zu einem neuen Verhör bestellen, als Zeuge diesmal, und …Jemand rief ihren Namen. Sie drehte sich auf der Treppe um. Eine Gruppe Anwälte stand in lebhaftem Gespräch mitten im Foyer. In ihren schwarzen Talaren mit weißer Krause um den Hals und weiten Ärmeln, die flatterten, wenn sie gestikulierten, sahen sie aus wie eine Schar Elstern, die sich auf einem überdimensionalen Schachbrett niedergelassen hatten. Einer von ihnen winkte ihr eifrig zu.
– Hallo, Claude, sagte sie, hast du einen neuen Klienten, von dem ich wissen sollte?
– Nein, heute nicht, sagte er, aber hast du von Jean-Pierre Wastia gehört? Er ist auf dem Markt hinten am Bahnhof mit ein paar Typen in eine Schlägerei geraten, und jetzt liegt er im Krankenhaus.
– O nein, sagte Martine bestürzt.
Sie lief eilig durch die Korridore zurück zum Annex. Sie fühlte sich auf eine unangenehme Art schuldig. Wenn der Junge nun ernstlich verletzt war! Es wäre nicht passiert, wenn sie ihn nicht hätte festnehmen lassen, und es wäre nicht passiert, wenn sie ihn nicht freigelassen hätte. Aber hatte sie einen Fehler gemacht? Nein, dachte sie, sie hatte keine andere Wahl gehabt, als Jean-Pierre Wastia festzunehmen, wenn die Beweise gegen ihn sprachen, und sie hatte keine andere Wahl, als ihn freizulassen, wenn die Beweise, die für seine Unschuld sprachen, stärker wurden. Es war nicht ihre Schuld, daß es in Villette Idioten gab.
– Hast du von Jean-Pierre Wastia gehört, fragte Agnes, als Martine ins Dienstzimmer kam, mehrere Journalisten haben angerufen und wollen einen Kommentar von dir.
Sie schob einen Stoß Telefonzettel zu Martine hinüber, die sie rasch durchblätterte. Radio, Fernsehen, die großen belgischen Tageszeitungen und, natürlich, NathalieBonnaire von der Gazette de Villette. Aber die ausländischen Medien schienen das Interesse verloren zu haben, seit ihre Korrespondenten nach Brüssel zurückgekehrt waren. Was für ein Glück für Jean-Pierre Santini, dachte Martine bitter.
– Wir fahren zum Krankenhaus, sagte sie, ich kann meine Kommentare da abgeben. Weißt du, in welchem Krankenhaus er liegt?
Agnes zögerte.
– Saint-Sauveur, sagte sie, aber willst du wirklich hinfahren, es ist ja gar nicht dein Fall? Nimm es mir nicht übel, wenn ich das sage, aber wenn du ohne offiziellen Grund hinfährst, wirkt es, als würdest du als Freundin von Julie, ja, als Freundin der Familie Wastia hinfahren. Und dann gibst du denen Argumente, die dich in der Dreifachmorduntersuchung der Befangenheit bezichtigen.
Martine nickte langsam. Die Rechtspflegerin hatte recht – vor allem ihre Schuldgefühle und ihre Sorge um Julie bewirkten, daß sie zum Krankenhaus stürzen wollte, und es war klug von Agnes, sie davon abzuhalten. Aber sie hatte tatsächlich Grund herauszufinden, wie es um Jean-Pierre stand, und das würde ihr die Möglichkeit geben, vor den Medien zu sagen, was sie von der Lynchstimmung in Villette hielt.
– Ah, sagte sie, ich wollte gerade Monsieur Wastia zu einem neuen Verhör bestellen, als Zeuge diesmal, und jetzt mache ich mir ernste Sorgen, daß der Angriff auf ihn die Suche nach Nadias, Peggys und Sabrinas Mörder erschweren
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