Die toten Mädchen von Villette
auf.
– Schießen Sie los, sagte er tough.
Julie verdrehte die Augen. Agnes ließ sich mit gezücktem Stenogrammblock auf dem zweiten Stuhl des Krankenhauszimmers nieder.
– Was ich jetzt wissen möchte, sagte Martine, ist, ob dir an der Straße irgend etwas aufgefallen ist, nachdem du die Mädchen rausgelassen hattest. Autos, Menschen, was auch immer? Auf der Straße, neben der Straße, auf dem Weg zum Fluß?
Er schloß die Augen und runzelte in einem Versuch, sich zu erinnern, die Stirn.
– Nein, sagte er, überhaupt nichts. Ich habe auf der Straße nichts gesehen und überhaupt nicht zur Seite hin geschaut, das heißt, wenn da etwas gewesen wäre, hätte ich es nicht gesehen.
Er sank zurück in die Kissen und schlug die Augen auf.
– Aber ich habe später ein Auto gesehen, sagte er, nach dem Fußball. Ich bin rausgegangen zu den Hunden, als das Spiel zu Ende war, ich habe sie rausgelassen und den Scheinwerfer auf dem Hof angemacht und sie eine Weile frei herumlaufen lassen, und dann fingen sie an zu bellen und liefen in Richtung Straße. Ich hinterher, und da kam ein Auto auf der Straße, aus Richtung Villette.
Ein Auto, das also vom Tatort gekommen sein konnte, dachte Martine gespannt, und die Zeit stimmte auch. Es konnte der Mörder gewesen sein, der auf einem Schleichweg nach Villette zurückkehren wollte, über die alte Brücke und am anderen Flußufer entlang.
– Konntest du sehen, was für ein Auto es war, welche Marke, welche Farbe? fragte sie.
Er begann den Kopf zu schütteln, unterbrach sich aber mit einer Grimasse des Schmerzes.
– Nein, dafür war es zu dunkel, sagte er matt, es war dunkel, nicht hell, aber es könnte schwarz oder blau oder grün oder was weiß ich gewesen sein. Aber es fiel etwas Licht vom Scheinwerfer auf die Straße, und ich habe es von der Seite gesehen. Es war entweder ein BMW der Dreier-Reihe, nicht das letzte Modell, oder ein Mercedes der 190er-Reihe, auch nicht das letzte Modell. Da bin ich hundertprozentig sicher.
Er schloß wieder die Augen.Der Oberkellner des Aux Armes de Verney bestand darauf, Annick zu einem späten Lunch einladen zu dürfen, während sie redeten, und Annick brachte es nicht über sich, das Angebot abzulehnen. Sie hatte ja nur Orangensaft und Kaffee gefrühstückt.
Der Oberkellner war ein grauhaariger, distinguierter Franzose um die Sechzig, der sie mit fast übertriebenem Wohlwollen empfangen hatte. Vielleicht sah sie so ausgehungert aus, daß sie seine Vatergefühle weckte, dachte Annick, oder er stand auf Polizistinnen.
Er führte sie in dem nachmittagsleeren Restaurant zu einem Tisch und zog höflich den Stuhl für sie hervor.
– Womit kann ich Sie in Versuchung führen? fragte er und reichte ihr die Speisekarte. Sie war auf dickes, cremefarbenes Papier gedruckt, in dunkelgrünes Leder gebunden und enthielt keine Preise. Bestimmt für Damen, von denen nicht erwartet wurde, daß sie sich ihre süßen, kleinen Köpfe mit komplizierten Überlegungen darüber zerbrachen, was Speisen kosteten, dachte Annick. Sie hatte während ihrer Jugendjahre in Paris viele solcher Speisekarten gesehen.
– Oh, sagte sie, ich sehe, daß Sie Cesar’s Salad haben, das habe ich seit langem nicht gegessen. So einen hätte ich gern, mit vielen Croutons, aber ohne Hähnchen und anderem unnötigen Kram.
Cesar’s Salad war in der Zeit, als sie vor allem von Salatblättern gelebt hatte, ihr Leibgericht gewesen.
Der Franzose lächelte wohlwollend, verschwand in die Küchenregionen, kam mit zwei Gläsern Eiswasser zurück und ließ sich ihr gegenüber nieder.
– So, sagte er, der Salat kommt gleich. Was wollten Sie noch mal wissen, Inspektor Dardenne?
Annick war aus dem Hotel zurückgekehrt, das Notizbuchvoller Befragungen. Sie hatte mit den beiden Putzfrauen gesprochen, sie hatte mit dem Schichtleiter des Zimmerservice am Mordabend gesprochen und mit den Serviererinnen, die die Bestellungen in die Journalistenkorridore hinaufgetragen hatten. Sie hatte erfahren, daß der Hoteldirektor die Runde gemacht und die eingeladenen Reporter begrüßt hatte, und ihn ebenfalls befragt.
Dann war sie zur Markthalle gegangen, um festzustellen, ob im Laufe des Mordtages jemand Gänseleber an einen denkbaren Mörder verkauft hatte, war aber nicht sehr viel klüger geworden. Die Markthalle hatte am Freitag verlängerte Abendöffnungszeiten gehabt, und beim Delikatessenhändler hatte es mehrere Sonderangebote gegeben, unter anderem ausgerechnet Gänseleber. Er hatte
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