Die toten Mädchen von Villette
Samstagnachmittag verabreden. Aber das ging nicht, sagte Christelle. Sie hatte da eine Verabredung mit jemand anders.
– Aber dann durften Sie natürlich in Villette bleiben und über den Mord schreiben, sagte Christian.
Richards lachte auf.
– Nein, nein, es muß schon etwas Spektakuläres passieren, damit ein Mord in einem belgischen Kaff wie Villette die internationale Presse interessiert, sagte er.
– Aber du warst bis Sonntag da, sagte Marinelli, ich erinnere mich, daß ich mit dir zurück nach Brüssel fahren konnte, nachdem aus meinem Interview nichts geworden war.
– Ich hatte in Villette wohl ein paar Dinge zu erledigen, sagte Richards.Martine hatte während des Vormittags den Dreifachmord zurückgestellt und sich mit der von ihr vernachlässigten Vergewaltigungsgeschichte befaßt. Sie wollte weitere Zeugenvernehmungen zur Voruntersuchung hinzufügen, bevor das Gericht darüber entschied, ob Brigitte Onckelinx’ Klient freigelassen werden oder in Haft bleiben sollte.
Sie schaffte es, zwei der Jugendlichen, die bei dem Fest am Donnerstagabend in der Direktorsvilla dabeigewesen waren, zu verhören, ein junges Paar, das Hand in Hand zu Martine hereinkam, nervös und von ihrer eigenen Bedeutung erfüllt zugleich. Die meisten der jungen Männer, die auf dem Fest gewesen waren, leugneten überhaupt, etwas gesehen oder gehört oder gemerkt zu haben. Aber der neunzehnjährige Jérôme war dabeigewesen, als seine Freundin Caroline sich zusammen mit anderen Mädchen um das geschockte Vergewaltigungsopfer gekümmert hatte, er hatte ihre zerrissenen Kleider und ihren völlig verängstigten Blick gesehen und erinnerte sich, was sie gesagt hatte.
Aber er schien nicht besonders erstaunt darüber zu sein, daß viele der Festteilnehmer das Gedächtnis verloren hatten.
– Julien ist es gewohnt zu bekommen, was er will, sagte der Junge und betrachtete Martine mit aufrichtigen braunen Augen hinter dicken Brillengläsern, und er fängt Streit an, wenn man nicht tut, was er sagt. Ich und Caroline sind ja nach Hause gefahren, sobald die Mädchen Virginie in ein Taxi gesetzt hatten, aber ich nehme an, daß er sofort anfing, den Leuten zuzusetzen, den Mund zu halten. Ich finde es recht schön, daß er sitzt, wirklich.
Agnes lächelte, als der Junge die Tür hinter sich zuzog.
– Das dürfte es dem Ankläger leichtmachen, das Gericht davon zu überzeugen, die Haft zu verlängern, sagte sie.
Sie schrieb das Verhör aus, während Martine die Akte durchging, um sich auf die Gerichtsverhandlung vorzubereiten. Sie fühlte sich ihrer Sache ziemlich sicher. Das heutige Verhör hatte ihre Argumente bestärkt, und Virginies blaue Flecken sahen auf dem Bild beinah schlimmer aus, als sie in Wirklichkeit waren.
Es gelang ihr nur mit Mühe, ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken, als sie zwei Stunden später mit den Unterlagen unter dem Arm aus dem kleinen Sitzungssaal des Gerichts trat. Nachdem Martine den Stand der Voruntersuchung dagelegt hatte, hatte Staatsanwältin Clara Carvalho für die Fortsetzung der Haft plädiert. Das Gericht hatte sich Carvalhos Linie angeschlossen und Brigitte Onckelinx’ Antrag, daß ihr Klient auf freien Fuß gesetzt werden sollte, abgelehnt. Brigittes Absätze klapperten böse am Marmorfußboden, als sie im Foyer an Martine vorbeifegte.
– Na ja, das lief ja gut, sagte Clara Carvalho, nahm das schwarze Barett, das sie vor Gericht getragen hatte, ab und ließ es um den Finger kreisen. Ein Paar weiße Jeans lugten unter dem Saum ihres schwarzen Talars hervor.
– Zeit zum Lunch, konstatierte sie, kommen Sie mit in die Blinde Gerechtigkeit, Martine?
Martine schüttelte den Kopf.
– Schaffe ich leider nicht, sagte sie, ich muß zurück zum Dreifachmord.
Clara Carvalho nickte und überquerte den schwarzweißen Marmorboden in Richtung Ausgang, während Martine zu den Treppen zum Obergeschoß ging. Ihre Gedanken waren schon wieder bei der Morduntersuchung. Aber möglicherweise hatte ihr die kleine Ablenkung ganz gut getan, dachte sie. Vielleicht konnte sie jetzt einen Einfallswinkel finden, den sie übersehen hatte, einen Ansatzpunkt, den sienicht einbezogen hatte. Christian war in Brüssel und fühlte den verdächtigen Journalisten auf den Zahn, und Annick überprüfte mit dem Hotelpersonal ihre Alibis, während gleichzeitig die Routinearbeit weiterging.
Das große Problem war nach wie vor, daß keiner den möglichen Mörder auf dem Weg zum oder vom Tatort gesehen hatte. Er mußte vor
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