Die toten Mädchen von Villette
Da stand Kriminalkommissar Christian de Jonge, klein und untersetzt, mit alerten Augen über dem gepflegten dunklen Bart.
– Gut, sagte Martine, dann fahren wir.
KAPITEL 4
Samstag, 25. Juni 1994
Villette
Das erste, was sie sah, waren die Beine. Ein Paar kälbchenhafte Jungmädchenbeine mit Schürfwunden an den Knien guckten in einem unnatürlichen Winkel aus einem Gebüsch hervor, die Füße in pathetischen hochhackigen Sandaletten. Der glitzerrosa Nagellack der Zehennägel schimmerte im Schein der starken Polizeischeinwerfer wie zehn Perlen im Gras.
Martine straffte sich und ging zur Absperrung. Blauweißes Absperrband war quer über die Straße und den ganzen Weg hinunter zum Fluß gezogen worden. Dunkle Gestalten bewegten sich ins Scheinwerferlicht und wieder heraus wie Schauspieler auf einer Theaterbühne. Hinter ihnen wurde der Himmel über Villette vom Festfeuerwerk erleuchtet, Kaskaden und schimmernde Sternschnuppen aus Licht in surrealem Kontrast zur Stimmung am Tatort.
Jemand reichte Martine und Julie Schuhschutz und Schutzkleidung. Christian de Jonge war als erster eingetroffen und kam ihnen an der Absperrung entgegen, schon mit Schutzkleidung über dem Anzug.
– Das hier ist wohl mit Abstand das Schlimmste, was ich je gesehen habe, sagte er schwer, kommt mit, seht’s euch an.
Er ging ihnen voraus zum Flußufer. Der Fluß machte hier eine leichte Biegung, und an der Innenseite der Biegung weitete sich der schmale Uferstreifen zwischen Straße und Wasser zu einer platten, grasbewachsenen Landzunge.Der Boden senkte sich ein wenig abwärts, und eine Wand aus Büschen verbarg den Fluß, wenn man auf dem Gras gleich an der Straße stand.
Sie saß an einen Baum direkt am Ufer gelehnt, ein junges Mädchen in ausgeschnittenem roten Top und kurzem schwarzen Rock, der über die gespreizten Beine hochgerutscht war, so daß man im unbarmherzigen Licht der Scheinwerfer sah, daß sie keinen Slip anhatte. Ihre dicken, dunkelgoldenen Haare lagen wie Fächer über den Schultern und schimmerten in der starken Beleuchtung. Sie hatte die Arme hinter sich, die Handflächen am Boden, als ob sie sich auf sie stützte, obwohl es tatsächlich der Baumstamm war, der sie aufrecht hielt. Sie war sehr, sehr tot, sah aber merkwürdig unberührt aus. Ein Polizeifotograf machte immer noch Bilder, und ein paar Leute von der Spurensicherung in Schutzkleidung untersuchten den Boden um das tote Mädchen.
Sie sieht aus wie eine Schaufensterpuppe, dachte Martine, während eine neue Kaskade glitzernder Sterne den Himmel über Villette erleuchtete und langsam zum Fluß hinuntersank, sie sieht aus, als hätte sie jemand in dieser Pose in einem Schaufenster arrangiert.
Daß das tote Mädchen im selben Alter wie Tatia zu sein schien, berührte sie unangenehm, aber ihre Rolle war ein Schutz gegen private Gefühle. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie an einen Tatort gerufen worden war. Sie hatte Angst gehabt, sich vor testosteronstrotzenden männlichen Polizisten zu blamieren, indem sie ohnmächtig wurde oder auf andere Weise Schwäche zeigte, wenn sie das Mordopfer sah, aber ihr Auftrag hatte sie gestählt, sie kühl und professionell gemacht.
– Wissen wir etwas über die Todesursache? fragte sie. Christian schüttelte den Kopf.
– Noch nicht, Professor Verhoeven ist unterwegs. Aber es war kein Messer und keine Schußwaffe, es war etwas, das schnell gegangen ist und keine Blutspur hinterlassen hat. Gehen wir zum nächsten Opfer?
Das zweite Mädchen lag im Gras links von dem Weg hinunter zum Fluß. Sie lag auf dem Rücken, der Länge nach, als sei sie vom Blitz getroffen worden und einfach umgefallen. Ihr Jeansrock leuchtete kreideweiß auf dem dunklen Gras, und ihre langen dunklen Haare bildeten einen Fleck tieferen Schattens auf dem Boden.
– Das gleiche hier, sagte Christian, keine offensichtlichen Zeichen äußerer Gewalt, nur ein toter Teenager, das gleiche bei der nächsten.
Das dritte Mädchen lag näher an der Straße, der Körper zur Hälfte in einem Gebüsch verborgen. Sie sah jünger aus als die beiden anderen, höchstens vierzehn. Es waren ihre Beine, die Martine zuerst gesehen hatte, so herzzerreißend in den billigen Festtagsschuhen. Martine sah vor sich, wie sie hoffnungsvoll dagesessen und sich die Zehennägel angemalt, sich über die Schuhe mit ihrem Dekor aus glitzernden Steinen und auf den Abend gefreut hatte.
Der Absatz des linken Schuhs schien ab zu sein. Hatte sie versucht, vor dem Angreifer zu
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