Die toten Mädchen von Villette
lächelte mit glitzernden dunklen Augen und fuhr sich mit den Fingern durch die schwarzen Locken.
– Oh, wunderbar, sagte sie, ich glaube, zwischen uns kann endlich etwas sein, aber ich wollte ein bißchen vorsichtig vorgehen, um ihn nicht zu verschrecken. Möchtest du eine Tasse Kaffee, während wir auf den Zirkus nach dem Konzert warten?
Martine zögerte.
– Ich habe gerade einen doppelten Espresso getrunken, ich hab bestimmt Koffein bis zu den Augenbrauen. Aber das ist wohl egal, wenn wir arbeiten sollen, ja, bitte, ich nehme gern eine Tasse.
Es war stickig im Raum, und während Julie Kaffee holen ging, öffnete Martine einen Spalt weit das Fenster. Kühle Nachtluft sickerte herein, zusammen mit dem Geräusch hämmernder Trommeln von der Freiluftbühne auf der Place de la Cathédrale. Als erstes stand eine neue Elektronikmusikgruppe aus Villette auf dem Programm. Martine hatte sie gehört und fand, sie klang wie eine schlechte Imitation von Front 242, eine ihrer Lieblingsbands in den achtziger Jahren, als sie noch in Klubs und Konzerte ging. Die zweite Nummer war eine lokale Rapgruppe, der es innerhalb einer Woche gelungen war, sich auf den neunzehnten Platz in der französischen Topliste hochzuarbeiten. Der letzte Teil des Konzerts aber war der Oper gewidmet, mit Thérèse Gennardi, einer jungen Sopranistin aus Villette, die neulich an der Scala in Mailand mit großem Erfolg als Susanna in »Figaros Hochzeit« eingesprungen war.Vielleicht steckte der Gedanke dahinter, daß Mozart und Puccini eine beruhigende Wirkung auf die Zuhörer haben und sie dazu bringen würden, das Konzert brav und still zu verlassen.
Die Kaffeetassen waren leer, und vom Platz waren Töne aus »Madame Butterfly« zu erahnen, als auf Julies Schreibtisch das Telefon klingelte. Julie hob ab und reichte den Hörer hinüber zu Martine.
– Carvalho, flüsterte sie.
Clara Carvalho, neuernannte stellvertretende Staatsanwältin, klang aufgeregt an der Grenze zur Hysterie.
– Martine, Martine, kommt sofort runter, ihr müßt rausfahren, da sind drei Tote! Drei Mädchen sind tot!
Sie knallte den Hörer auf, und Martine fragte sich, ob sie richtig gehört hatte. Drei Tote? Es mußte ein Verkehrsunfall sein. Aber warum klang Carvalho dann so aufgeregt?
Eine Schockwelle aus Adrenalin, Schweiß, Zigarettenrauch und erregten Stimmen schlug Martine und Julie entgegen, als sie die Tür zum zweiten Stock öffneten. Clara Carvalho, die stahlgefaßte Brille auf halbem Weg die Nase hinunter, stand mitten im Raum und sah panisch aus.
– Es sind drei Tote, Martine, drei Tote! rief sie wieder aus und schob mit dem Mittelfinger die Brille hoch. Es war ihr erstes Dienstwochenende. Martine erinnerte sich, wie ihr bei ihrem ersten Diensteinsatz zumute gewesen war. Sie legte Clara Carvalho die Hand auf die Schulter.
– Erzählen Sie, sagte sie, der Reihe nach, aber schnell. Was ist passiert?
Die junge Staatsanwältin nahm sich zusammen.
– Was wir wissen, sagte sie, ist, daß zwei Jungen auf dem Heimweg mit dem Fahrrad am Fluß Richtung Givray dreitote Körper entdeckt haben. Einer von ihnen ist zum Zentrum zurückgeradelt und hat an einer Tankstelle die Notrufnummer angerufen. Glücklicherweise war eine Streife von der kommunalen Polizei in der Nähe, die war nach ein paar Minuten da, und auch der Krankenwagen. Sie konnten sofort feststellen, daß es drei Tote sind und daß die Todesfälle verdächtig wirken, deshalb haben die Polizisten hier angerufen. Und jetzt beschließe ich, eine Voruntersuchung einzuleiten, mit Ihnen, Martine, als Voruntersuchungsleiterin.
– Und wer sind die Toten, fragte Martine, Sie sagten »drei tote Mädchen«, Clara?
Die Staatsanwältin nahm die Brille ab und putzte sie mit einem Zipfel ihrer weißen Bluse.
– Ja, sagte sie in ruhigerem Tonfall, es sind anscheinend drei junge Mädchen, Teenager, sagte der Polizist, der hier angerufen hat.
Martine fühlte sich trocken im Mund. Das hier würde gigantisch werden. Jetzt ging es darum, alles von Anfang an richtig zu machen.
– Das Gebiet muß abgesperrt werden, sagte sie, und keiner setzt seinen Fuß dahin außer den Leuten vom Labor und von der Spurensicherung. Alice Verhoeven ist diensthabende Gerichtsärztin, oder? Ist sie schon auf dem Weg?
Clara Carvalho sah ihre Sekretärin an, die nickte.
– Und heute abend ist Christian im Dienst, fuhr Martine fort, er muß die Polizeiarbeit leiten. Wo ist er?
– Hier, sagte eine Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um.
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