Die toten Mädchen von Villette
Eskil Lind gleichzeitig von seiner dritten Frau scheiden ließ, um seinen jungen Fund zu heiraten. Fünf Jahre, drei Filme und ein Kind später ging das Paar getrennte Wege. Inzwischen war Sophie erfolgreiche Theater- und Opernregisseurin. Sie war in Villette, um Regie bei einem Fernsehfilm über ein Massaker im fünfzehnten Jahrhundert zu führen, über das Thomas gerade ein Buch schrieb.
– Ist es nicht komisch, daß sie einen Film über ein Massaker sponsern wollen, sagte Sophie, das ist doch wohl keine so gute Reklame für Villette?
– Wenn es vor fast sechshundert Jahren stattgefunden hat, ist es kein Problem, sagte Thomas. Hör mal, Fia, es ist schön, daß du hier bist, aber nächste Woche wirst du ziemlich allein sein, fürchte ich. Ich arbeite noch, und von Martine reden wir lieber nicht.
– Ich muß nicht unterhalten werden, mein Lieber. Ich hab eine süße kleine Wohnung an der Place de la Cathédrale gemietet, in die ich Montag einziehe, ich kann in Cafés am Platz sitzen und Zeitung lesen und stricken und die Tauben füttern. Außerdem habe ich einen Fototermin gebucht für eine Reportage in der Elle. Sie wollen über meine lange Karriere schreiben und alte Bilder benutzen, und der Fotograf, der die Standbilder zu »Blanche« gemacht hat, soll die neuen Porträts fotografieren – »Sophie Lind zurück im belgischen Mittelalter« sozusagen.
– Ein Fotograf, der Bilder zu »Blanche« gemacht hat und immer noch aktiv ist? fragte Thomas verblüfft. Er war neun Jahre alt gewesen, als seine langbeinige große Schwester nach Schweden zog, um Filmstar zu werden und einen zwanzig Jahre älteren Mann zu heiraten, den er nie richtig kennengelernt hatte. Es kam ihm wirklich wie eine Ewigkeit vor.
Sophie brach in Lachen aus.
– Aber lieber Thomas, das war wohl nicht sehr taktvoll! Doch, ein paar von uns klapperigen alten Ruinen, die damals mit dabei waren, schleppen sich immer noch an Stöcken vorwärts. Ah, schau mal, wie schön!
Sie waren an den Kai gekommen, und der Fluß Meuse breitete sich vor ihnen aus, glitzernd im Sonnenlicht. Auf der Insel vorn rechts ragten die Zinnen und Türme der Kathedrale vor dem wolkenlosen Himmel auf; an Tagen wie diesen sah es aus, als könne die ganze gewaltige Steinmasse abheben und davonschweben. Hinter der Kathedrale drängten sich in einem Wirrwarr mittelalterlicher Gassen und enger Passagen einige der ältesten Häuser von Villette. Es war ein Anblick, der sich in fünfhundert Jahren kaum verändert haben dürfte, und heute waren viele der Menschen, die am Kai entlangschlenderten und in den Straßencafés saßen, noch mit den mittelalterlichen Trachten bekleidet, die sie in der Prozession getragen hatten.
– Wie schade, daß ich das Team nicht hier habe, sagte Sophie, wir hätten Hintergrundbilder machen können, die man ganz einfach hätte benutzen können. Thomas, hast du daran gedacht, daß Mittsommerabend ist? Wir müßten einen Mittsommerbaum haben oder etwas, das wir während des Essens auf den Tisch stellen können.
– Wir müssen wohl Schnapslieder singen, sagte Thomas zerstreut. Sie hatten den Pont des Évêques betreten, die Brücke, die zur Île St. Jean führte, und langsam wurde es schwer, vorwärts zu kommen. Shortsbekleidete Touristen mit Kamerataschen und Sandalen drängten sich mit mittelalterlichen Gauklern und Kaufmannsfrauen, und alle versuchten mit wechselndem Erfolg, nicht in die Haufen von Pferde- und Kamelausscheidungen zu treten, die in der Nachmittagshitze einen scharfen Geruch ausströmten.
Sie bogen in die schmale Straße rechts ein und nahmen Kurs auf das gemalte Schild, auf dem die Göttin der Gerechtigkeit mit der Binde vor den Augen unparteiisch ihr Schwert und ihre Waagschalen hob. Thomas sah auf die Uhr. Doch, Martine dürfte jetzt an Ort und Stelle sein.
Er sah sie sofort, als er durch die Tür trat. Sie hielt etwas in der Hand, und es war etwas in ihren halb gesenkten Augenlidern und den Linien um ihre fest geschlossenen Lippen, das ihm sagte, daß sie kämpfte, um nicht in Tränen auszubrechen. Ihr gegenüber saß Philippe mit seinem schönen, verhärmten Gesicht, schwer durchschaubar und unzugänglich wie immer. Aber Tatias junges Gesicht unter den roten Haaren war weit offen, verletzlich und fragend.
Es war wie ein Tableau, ein empfindsamer Augenblick, eingefroren in der Zeit.
– Guck sie dir an, sagte ihm Sophie leise ins Ohr, sie sehen aus wie ein Genrebild aus dem neunzehnten Jahrhundert, es müßte heißen »Ein
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