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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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Familiengeheimnis«. Wir müssen die Stimmung hier wohl etwas auflockern.
    Sie betrat das Lokal, eine Primadonna, die ihren Auftritt hatte und sofort selbstverständlich die Bühne einnahm.
    – Hallo, Martine, sagte sie mit ihrer wohlmodulierten Altstimme, du hast doch nicht lange gewartet, wir sind im Gedränge hängengeblieben. Nein, Philippe, was für eine Überraschung! Und bist du das, Catherine, bist du so groß geworden? Wie schön, jetzt können wir alle zusammen Mittsommer feiern.

    Martines Glück hielt an. Unglaublicherweise konnte sie das ganze Abendessen einnehmen und sogar nach dem Dessert eine Tasse Kaffee trinken, ohne daß jemand vom Justizpalast etwas von ihr wollte. Kurz vor halb elf ging die ganzeGesellschaft außer Martine hinaus, um sich für das Konzert gute Plätze zu sichern. Tatia tanzte beinah, sternenäugig und strahlend – Sophie hatte ihr impulsiv einen Job als Kostümassistentin bei der Fernsehinszenierung angeboten, und sie hatte hingerissen zugesagt.
    Der Fernsehapparat, den Tony für die Fußball-WM angeschafft hatte, lief in der Bar. Brasilien spielte gegen Kamerun. Thomas blieb stehen und begann fasziniert, das Spiel zu verfolgen, aber Sophie nahm lachend seinen Arm.
    – Denk jetzt daran, daß du ein gesetzter Professor bist und deine Verantwortung für das Kulturleben von Villette tragen mußt, sagte sie und zog ihn mit sich hinaus.
    Martine setzte sich in die Bar und bestellte noch einen doppelten Espresso. Beinah gegen ihren Willen nahm sie das Foto heraus, das Tatia mitgebracht hatte. Das Mädchen hatte offenbar entzückte Rufe erwartet, als sie ihren Fund aus der Handtasche nahm, aber weder Philippe noch Martine hatten reagiert wie vermutet. Philippe hatte seine Tochter gefragt, woher sie das Foto hatte, aggressiv, als wäre Tatia ein widerspenstiger Zeuge vor Gericht, und er hatte gewirkt, als wäre er … ängstlich? Ja, dachte Martine und betrachtete die beiden lächelnden Mädchengesichter, das Foto zeigte etwas, das ihren Bruder erschreckte. Sie selbst hatte weinen müssen. Die Tränen waren einfach hervorgequollen, plötzlich und peinlich. Ihr ganzes Leben hatte sie ihre Mutter nie lachen sehen wie das Mädchen auf dem Bild, und sie fragte sich wie während der letzten Wochen schon so oft, was Renée eigentlich zugestoßen war, was ihr Lachen zum Verstummen gebracht hatte. Sie fragte sich, wie sie selbst geworden wäre und wie ihr Leben ausgesehen hätte, hätte sie eine Mutter gehabt, die so glücklich und voller Zuversicht war, wie das Mädchen auf dem Bild aussah.Als Kind hatte sie oft die Mißbilligung der Mutter wie einen kalten Hauch gefühlt, wenn sie zu lebhaft gewesen war oder etwas Verwegenes getan hatte. Und dann gab es die Szene, die sie nie vergessen würde, damals, als sie ihren Eltern erzählt hatte, daß sie allein nach Liège ziehen wolle, daß sie sich schon einen Job und eine Unterkunft besorgt habe. Das war eines Sonntags beim Mittagessen gewesen. Philippe und Bernadette waren mit der neugeborenen Tatia da, und Martine hatte gedacht, daß der Anblick der perfekten kleinen Familie des Sohnes die Eltern dazu bringen würde, ihre Pläne mit größerem Gleichmut zu sehen. Aber Renée war es nahegegangen, sie hatte die Tochter angesehen, als hätte sie sie tödlich verletzt.
    Heute wußte Martine, daß Renée selbst im gleichen Alter grausam hatte lernen müssen, wie es katholischen Mädchen aus gutem Hause, die sich nicht damit begnügen, zu Hause zu sitzen und zu sticken, ergehen kann. War das der Grund dafür, daß sie versucht hatte, ihre Tochter zurückzuhalten? War das der Grund? Sie konnte nicht aufhören, darüber nachzugrübeln.

    Das Konzert hatte gerade angefangen, als sie die Bar verließ und die wenigen Schritte über die Rue des Chanoines zum Annex des Justizpalastes ging. Sie überlegte kurz, nach Hause zu fahren, um etwas Schlaf zu bekommen, entschied aber, daß das keine gute Idee war. Das Risiko für Krach war am größten nach dem Konzert, wenn die mehr oder weniger nüchterne Zuhörerschar sich auflösen und auf den Brücken drängen würde.
    In Martines Dienstzimmer war es hell. Julie Wastia saß mit einer Tasse Kaffee vor sich am Schreibtisch und sah verträumt aus. Sie hatte mit Dominic di Bartolo, dem Chefder Administration am Justizpalast, zu Abend gegessen. Julie schwärmte seit mehreren Jahren für Dominic, aber erst in der letzten Zeit hatte er angefangen, sie zu bemerken.
    – Wie war das Essen? fragte Martine.
    Julie

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