Die toten Mädchen von Villette
Jean-Pierre, sagte sie, und du bekommst natürlich frei, aber, Julie, ich muß dich fragen, wie du wissen konntest, daß er mit dem Fall zu tun haben könnte.
Sie sahen sich über den Schreibtisch hinweg an, aus grünen Augen und aus schwarzblauen, und keine schlug den Blick nieder.
– Es war der grüne Lastwagen, sagte Julie, ich wußte, daß Jean-Pierre sich gestern abend Großvaters Lastwagen geliehen hat. Und ich habe heute morgen, als du dagesessen und geschlafen hast, in Großvaters Hof angerufen. Ich habe mit Jean-Pierre geredet, ein bißchen gefragt, was er gemacht hat und was er heute machen will.
Sie sah Martine direkt in die Augen.
– Und damit du nicht fragen mußt, kann ich dir sagen, daß ich ihn nicht irgendwie gewarnt habe, obwohl ich mich gefühlt habe wie ein Judas. Ich glaube, er wußte nicht mal was von den Morden, Jean-Pierre ist nicht so sehr der Typ, der Zeitungen liest oder Nachrichten hört.
Ihr Blick wanderte, und sie sah aus, als betrachtete sie etwas, das weit, weit weg war.
– Weißt du, sagte sie, daß ich, als ich klein war, ein Jahr bei meiner Mutter in Brüssel gewohnt habe?
Martine schüttelte den Kopf. Julie kam aus einer Familie, die in Villette nahezu Pariastatus hatte. Ihr Großvater Bernard Wastia war Schrotthändler mit einem unerschütterlich schlechten Ruf, und seine Söhne Bruno und Jerry waren mit zweifelhaften Autogeschäften und der Neigung,in Schlägereien zu geraten, in seine Fußstapfen getreten. Martine wußte, daß Julie die Tocher von Josette Wastia, Schrott-Bernards einziger Tochter, war und bei ihren Großeltern aufgewachsen war.
– Doch, sagte Julie, als ich vier war, fand Maman, ich sollte bei ihr wohnen und in den Kindergarten gehen, während sie ihren Friseursalon führte, und ich zog zu ihr nach Brüssel. Aber das funktionierte nicht, sie hatte zu viel zu tun, und da mußte ich nach Villette zurückziehen. Dann, als ich mit der Schule angefangen hatte und groß genug war, tagsüber allein zurechtzukommen, wollte sie, daß ich wieder bei ihr wohne. Aber da wollte ich hierbleiben, ich hatte Freunde, ich hatte Lehrer, die ich mochte, ich fand, Villette war mein Zuhause, und das habe ich Maman gesagt.
– Da, sagte Julie und sah Martine wieder an, hat sie etwas gesagt, das ich nie vergessen habe. »Kleines Mädchen«, hat sie gesagt, »du glaubst, daß du hier Freunde hast, aber früher oder später wirst du merken, daß du in Villette nie etwas anderes sein wirst als Josette Wastias uneheliches Kind, Schrott-Bernards Enkelin.« Jaja, es scheint, daß sie recht hatte und daß dieser Augenblick jetzt gekommen ist, stimmt’s?
– Jetzt bist du ungerecht, sagte Martine müde, du begreifst ebensogut wie ich, daß wir uns deinen Cousin vornehmen müssen. Aber er wird auf dieselbe Weise behandelt werden wie alle anderen, mit derselben Unvoreingenommenheit.
Julie sah sie mitleidig an.
– Das glaubst du vielleicht, sagte sie, du bist ja nicht aus Villette. Aber warte nur, wenn du anfängst, Beweise zu suchen, die gegen Jean-Pierres Schuld sprechen, dann wirst du merken, was du davon hast, er ist ja perfekt alsVerdächtiger. Aber eines sollst du wissen, Jean-Pierre ist unschuldig. Ich war am Tatort, und ich habe gesehen, was der Mörder getan hat, und ich weiß so sicher, wie ich hier sitze, daß mein Cousin dieses Verbrechen nicht begangen hat.
– Ich verspreche dir, sagte Martine, ich werde meinen Job machen, und wenn dein Cousin unschuldig ist, hat er nichts zu befürchten. Und du kannst auf unbestimmte Zeit Urlaub nehmen, aber vielleicht kannst du die Durchsicht der Choffray-Akte beenden, bevor du gehst.
– Damit ich beschäftigt bin, während ihr die Hausdurchsuchung durchführt, sagte Julie säuerlich.
– Adieu inzwischen, Julie, sagte Martine leise. Ich hoffe, daß du bald hier zurück bist.
Sie sah auf die Uhr, während sie auf den Korridor ging. Gleich neun. Am besten, sie rief sofort zu Hause an, um Thomas noch zu erreichen, bevor er zum Empfang des Bürgermeisters aufbrach. Aber sie konnte nicht gut an ihrem eigenen Schreibtisch sitzen und die richtige Garderobe für die Pressekonferenz diskutieren, während Julie danebensaß und wegen ihres Cousins deprimiert war. Sie ging in einen Raum am Korridor und wählte die Nummer zu Hause.
– Hallo, sagte sie, erinnerst du dich an mich? Ich bin deine Frau.
– Ja, sagte Thomas, es war etwas leer im Bett heute morgen, aber dafür habe ich dich auf einem großen Bild in der Zeitung. Das ist ja
Weitere Kostenlose Bücher