Die toten Mädchen von Villette
am Morgen hatten Fernsehteams, Radioreporter und Zeitungsjournalisten wie eine Horde vor dem Justizpalast gestanden. Mehrere von ihnen kamen aus dem Ausland – britische, französische, deutsche, niederländische. Sie kamen wohl von der Journalistengruppe, die eingeladen worden war, um die Botschaft von Villettes reichem Kulturleben nach Europa zu tragen.
– Madame Poirot!
Serge rief von der Tür aus nach ihr. Sie stand auf und ging in die Diele.
– Wir haben einiges gefunden, sagte Serge leise, die rechte Seite der Jacke, die der Junge, wie er sagt, gestern anhatte, ist voller Haare, lange, blonde Haare, die von Sabrina Deleuze stammen könnten.
– Aber wir wissen natürlich noch nicht, ob es Sabrinas Haare sind, sagte Martine.
– Nein, stimmte Serge zu, sie müssen ja zuerst analysiert werden. Wüßte gern, wie es denen da draußen ergeht?
Wie auf Bestellung ging die Haustür, und der Kriminaltechniker Luc Santini kam vom Hof herein. Er hatte einen triumphierenden Gesichtsausdruck.
– Wir haben etwas gefunden, Madame Poirot, können Sie mitkommen und draußen schauen.
Sie ging mit ihm auf den Hofplatz. Die Hunde hatten jetzt aufgehört zu bellen, standen aber noch mit gesträubtem Fell an der Einfriedung und knurrten in gleichmäßigen Abständen drohend. Luc Santini ging zu einem kleinen grünen Lastwagen, der an einem der Nebengebäude geparkt war.
– Der muß es gewesen sein, den muß er gestern abend benutzt haben, sagte er, gehen Sie vorsichtig hin und werfen Sie einen Blick auf den Boden im Fahrerhaus, wir haben es noch nicht angefaßt.
Die Gummimatte auf dem Boden des Beifahrersitzes war zur Seite gefaltet worden. Im Dunkeln auf dem Boden lag etwas Kleines, Pastellfarbenes. Martine legte die Hände auf den Rücken und beugte sich vorsichtig ins Fahrerhaus. Luc Santini machte eine starke Taschenlampe an und leuchtete in den Wagen hinein.
Das, was auf dem Boden lag, war eine zierliche Schleife, bedeckt mit glitzernden rosa Steinen. Martine erkannte sie sofort. Sie hatte die gleichen rosa Steine im Licht der Scheinwerfer am Tatort glitzern sehen.
Im Lastwagen, den Jean-Pierre Wastia während der Mordnacht gefahren war, lag eine Schleife vom Schuh der ermordeten Nadia Bertrand.
KAPITEL 6
Samstag, 25. Juni 1994
Villette
Sophie schlief lange und bestellte sich Frühstück aufs Zimmer. Mit auf dem Frühstückstablett lag die Lokalzeitung Gazette de Villette mit einem großen Bild ihrer Schwägerin auf der ersten Seite. Sophie las den Artikel, während sie ihren Kaffee trank. Mit ihrem Regisseursblick malte sie sich die Szene aus, als wäre sie dort gewesen – das Nachtdunkel, der Fluß, die drei toten Mädchen und die feiernde Stadt im Hintergrund. Es war wie eine Szene aus einer Oper, dachte sie, böser, jäher Tod und Karneval, junge Leben ausgelöscht. Aber das hier war wirklich. Keiner würde nach der Sterbeszene aufstehen und den Applaus entgegennehmen.
Sie schämte sich ein wenig für das, was sie am Abend über Martine gesagt hatte. Mit einem solchen Job war es kein Wunder, wenn man eine Spur reduziert wirkte. Martine mußte draußen am Tatort gewesen sein, als Sophie gerade mit Tony und Philippe Wein trank.
Sie sah zu den Kleidern, die sie in der Hotelgarderobe aufgehängt hatte. Das rote Kleid, das sie zum Empfang im Rathaus hatte anziehen wollen, wirkte völlig falsch, nachdem sie über den Dreifachmord gelesen hatte. Statt dessen nahm sie ein schwarzweißgemustertes Diorkleid, das sie nach langem Quengeln Jean-Jacques’ Großmutter hatte abkaufen können, kurz bevor sie mit ihm brach. Die Alte war schrecklich, aber ihre Haute-Couture-Kleider aus den fünfziger Jahren waren unglaublich. Manchmal glaubte Sophie, daß sie es allein aufgrund der Garderobe seiner Großmutter ganze drei Jahre mit Jean-Jacques ausgehalten hatte.
Sie malte sich mit ihrem rötesten Lippenstift die Lippen an. Es war ja trotz allem keine Beerdigung, auf die sie gehen sollte.
Thomas, Tatia und Philippe warteten in der Lobby auf sie. Thomas erzählte, er und Tatia seien mit einer Tüte Kleider für Martine im Justizpalast gewesen.
– Aber sie war nicht da, sagte Thomas, und keiner wollte uns sagen, wo sie war, aber ich hatte das Gefühl, daß sie vielleicht schon einen Verdächtigen haben und auf dem Weg waren, ihn festzunehmen.
– Das ist ja phantastisch, sagte Sophie, so gute Arbeit von Martine. Und wie ist es dir mit dem Vortrag ergangen?
Sie lächelte ihrem kleinen Bruder aufmunternd zu. Thomas
Weitere Kostenlose Bücher